Seite - 164 - in Umkämpfte Kirche - Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
Bild der Seite - 164 -
Text der Seite - 164 -
164 Österreichisches Küstenland
Feindbildern: (1) Im Konflikt mit der örtlichen Pfarrei ging es um soziale
und wirtschaftliche Abhängigkeiten: Ricmanje war kirchenrechtlich Dolina,
einem anderen Dorf, unterstellt, und die Dorfbewohner hatten dem dortigen
Pfarrer hohe Beiträge zu erbringen. Sie forderten eine eigene Pfarrei, um die
wirtschaftlich belastende Abhängigkeit beenden zu können. Die Zugehörig-
keit zur Pfarrei von Dolina war allerdings nicht nur wirtschaftlich schädlich.
Es war auch hinsichtlich des Selbstwertgefühls des Dorfes als Gemeinschaft
problematisch. Ricmanje war ein Pilgerort mit einer großen, bedeutenden
Kirche, dennoch war das Dorf einem anderen Ort unterstellt. (2) Im Kon-
flikt mit dem Bistum stand die Sprachenfrage im Fokus, was dem Fall eine
nationalpolitische »Sichtbarkeit« verlieh. Auch wenn es sich bei der Spra-
chenfrage um eine pragmatische Forderung handelte, wurde sie im Kontext
der »Nationalitätenkonflikte« artikuliert. Das Vokabular der »Nationalitä-
tenkonflikte«, die Verwendung nationalistischer Sprache, ermöglichte vie-
len Konfliktfällen auf dem Land eine breitere öffentliche Wahrnehmung. (3)
Weil das Bistum die lokalen Ansprüche sowohl in der Liturgiesprachen- als
auch in der Pfarreifrage ablehnte, entfremdeten sich die Bewohner immer
mehr von der römisch-katholischen Kirche als Institution. Daher kündig-
ten sie ihren Übertritt zum griechischen Katholizismus an. Da dieser Über-
tritt seitens der katholischen Hierarchie nicht erlaubt wurde, versuchten die
Dorfbewohner, in die serbisch-orthodoxe Kirche überzutreten. Wegen den
Übertritten (oder besser gesagt: wegen den Übertrittsversuchen) konnte
das Dorf als unkatholisches Dorf dargestellt werden, das seinen Glauben
verlassen würde. Dem Übertrittswunsch lag aber keine Kritik am katholi-
schen Glauben zugrunde, sondern nur der Wunsch, eine eigene Pfarrei zu
bekommen und die Gottesdienste im Slowenischen zelebrieren zu können.
(4) Weil den Dorfbewohnern ihre Forderungen innerhalb der institutiona-
lisierten Religion verweigert wurden, entstand ein Konflikt zwischen ihrer
sprachlichen und religiösen Zugehörigkeit: Es stellte sich die Frage, welchem
Inhalt sie größere Bedeutung beimaßen.343 Die Dorfbewohner hoben diese
Frage insofern dialektisch auf, als dass sie ihre Sprache in einer privatisierten
und entkirchlichten Religiosität weiterhin erleben konnten und wollten
– wie
die Akte priesterlos begangener, pseudo-religiöser Zeremonien zeigten. In
diesem Sinne spricht Thomas Luckmann von einer »unsichtbaren Religion«,
welche keines institutionalisierten Rahmens bedürfe.344
343 Über den Bedeutungszuwachs der Sprache gegenüber der privatisierbaren Religion
siehe u. a. Brubaker, Language, Religion, and the Politics of Difference, S. 99.
344 Über die Problematik der Gleichsetzung von Entkirchlichung und Unreligiosität
sowie von Entkirchlichung und Sekularität siehe Thomas Luckmann, The Invisi-
ble Religion. The Problem of Religion in Modern Society, New York / London 1967,
S. 22f.
Umkämpfte Kirche
Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Titel
- Umkämpfte Kirche
- Untertitel
- Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Autor
- Péter Techet
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35696-4
- Abmessungen
- 15.9 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Kirche, Religion, Österreich, Kaiserzeit
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Bemerkung zu den Personen- und Ortsnamen 11
- Danksagung 13
- Vorwort 15
- 1. Einführung: Konzept, Verortung, Methode 19
- 2. Imperium, Nation und Katholizismus in der Habsburgermonarchie 59
- 3. Österreichisches Küstenland 85
- 3.1 Konflikte um die Nationalisierung des kirchlichen Raumes in Istrien 88
- 3.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Triest 126
- 3.2.1 Ricmanje: Slowenischsprachiges Dorf an der sprachkulturellen Grenze zu Triest 126
- 3.2.2 Konfliktgeschichte: Vom Kampf um die Pfarrei bis zum Kampf gegen die Kirche 130
- 3.2.3 Konfliktanalyse: Situative Identifizierungen auf mehreren Konfliktebenen 161
- 3.2.4 Historischer Kontext: Lokaler Widerstand gegen kirchliche Vereinheitlichung 165
- 3.3 Fazit: Konkurrierende und proaktive Selbstbehauptung ländlicher Katholiken 168
- 4. Ungarisch-Kroatisches Küstenland 171
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 4.1.1 Einführung der altslawischen Liturgiesprache in der ehemaligen Militärgrenze 174
- 4.1.2 Konfliktgeschichte: Lokaler Widerstand gegen die altslawische Liturgiesprache 182
- 4.1.3 Konfliktanalyse: Nationale Indifferenz oder antiserbischer Hass? 195
- 4.1.4 Historischer Kontext: Altslawische Sprache als nationales Thema 203
- 4.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Fiume / Rijeka 207
- 4.3 Fazit: Reaktiver Selbstschutz ländlicher Katholiken 236
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 5. Konfliktdynamiken: Nationale Nonkonformität und religiöse Peripherie 241
- Ausblick 257
- Quellen- und Literaturverzeichnis 263
- Archivmaterial 263
- Bibliotheken 265
- Zeitungen 265
- Digitale Sammlungen 267
- Zeitgenössische Literatur 267
- Sekundärliteratur 268
- Ortsnamen in den landesüblichen Sprachen 289
- Personen 295
- Verzeichnis von Abbildungen, Karten und Tabellen 297
- Abkürzungen 299
- Register 301
- 1. Ortsregister 301
- 2. Personenregister 303