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249Nationalitätenkonflikt
ösen Nonkonformismus« stellt die »religiöse Nonkonformität« zwar selbst
eine Normbrechung dar, aber nicht mit der Intention, die ganze Ordnung
zu ersetzen.23
Die »zivilen« Zeremonien in Ricmanje und Drenova können demnach
als religiös nonkonforme Normbrechung betrachtet werden. Sie zielten nicht
auf die wertrational motivierte Beseitigung der katholischen Religion – sie
waren vielmehr zweckrational bestimmt: Weil die proaktiven oder reakti-
ven Ansprüche innerhalb der bestehenden Ordnung (»Kirche«) nicht erreicht
werden konnten, bedienten sich die lokalen Akteure non-konformer For-
men, ohne dabei die bestehende Ordnung wertrational abgelehnt zu haben.
Die »zivilen« Begräbnisse und Taufen forderten zwar die Deutungshoheit,
die Autorität der kirchlichen Obrigkeit heraus, indem sie der Kirche etwa die
Macht über den Körper entzogen.24 Aber die Zeremonien waren nicht »zivil«
im Sinne von einer Religionslosigkeit oder Antireligiosität. Statt von Säkula-
risierung kann die Rede vielmehr – im Sinne einer »Entkirchlichung« – von
»Profanierung« sein. Wie Giorgio Agamben die Profanierung beschreibt:
Während die Säkularisierung die Machtgrundlage verweltlicht, macht die
Profanierung sie allen zugänglich.25 Nicht die religiöse Lehre, sondern die
Machtstellung des Klerus wurde durch die dörflichen Handlungen wie etwa
die Zivilbegräbnisse oder zivile Taufen infrage gestellt.
Indem Laien in Ricmanje und Drenova priesterliche Aufgaben und Formen
ausübten, profanierten sie
– im Agambenschen Sinne
– ein Machtverhältnis:
Sie gaben es einem allgemeinen Gebrauch zurück. Die (zumindest ursprüng-
lich formulierten) Ansprüche der Menschen auf der lokalen Ebene bestanden
also nicht darin, die katholische Kirche, geschweige denn den katholischen
Glauben, verlassen zu wollen, sondern sie wollten ihr lokales Kirchenleben
(sowohl was die Pfarreistruktur als auch die Liturgiesprache anbetraf) selbst
bestimmen und gestalten dürfen. Erst nachdem die kirchliche Obrigkeit die-
sen proaktiven oder reaktiven Ansprüchen nicht nachgekommen war, han-
delten die Menschen in Ricmanje und Drenova zweckrational non-konform,
indem sie sich immer mehr der katholischen Kirche entfremdeten.
Als Analogie zur »religiösen Nonkonformität«, das heißt der zweckrati-
onalen Abweichung innerhalb einer bestehenden Ordnung, lässt sich auch
die vermeintliche, oben beschriebene »nationale Indifferenz« eher als »nati-
onale Nonkonformität« begreifen. Die nationalistischen Diskurse gaben vor,
was als »Italiener« oder »Kroate« oder »Slowene«
– im Sinne einer nationalen
23 Ebd., S. 7.
24 Zum biopolitischen Konzept der Macht über den nackten Körper siehe u. a. Giorgio
Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frank-
furt a. M. 2002, S. 127f.
25 Ders., Profanierungen, Frankfurt a. M. 2015, S. 74f.
Umkämpfte Kirche
Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Titel
- Umkämpfte Kirche
- Untertitel
- Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Autor
- Péter Techet
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35696-4
- Abmessungen
- 15.9 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Kirche, Religion, Österreich, Kaiserzeit
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Bemerkung zu den Personen- und Ortsnamen 11
- Danksagung 13
- Vorwort 15
- 1. Einführung: Konzept, Verortung, Methode 19
- 2. Imperium, Nation und Katholizismus in der Habsburgermonarchie 59
- 3. Österreichisches Küstenland 85
- 3.1 Konflikte um die Nationalisierung des kirchlichen Raumes in Istrien 88
- 3.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Triest 126
- 3.2.1 Ricmanje: Slowenischsprachiges Dorf an der sprachkulturellen Grenze zu Triest 126
- 3.2.2 Konfliktgeschichte: Vom Kampf um die Pfarrei bis zum Kampf gegen die Kirche 130
- 3.2.3 Konfliktanalyse: Situative Identifizierungen auf mehreren Konfliktebenen 161
- 3.2.4 Historischer Kontext: Lokaler Widerstand gegen kirchliche Vereinheitlichung 165
- 3.3 Fazit: Konkurrierende und proaktive Selbstbehauptung ländlicher Katholiken 168
- 4. Ungarisch-Kroatisches Küstenland 171
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 4.1.1 Einführung der altslawischen Liturgiesprache in der ehemaligen Militärgrenze 174
- 4.1.2 Konfliktgeschichte: Lokaler Widerstand gegen die altslawische Liturgiesprache 182
- 4.1.3 Konfliktanalyse: Nationale Indifferenz oder antiserbischer Hass? 195
- 4.1.4 Historischer Kontext: Altslawische Sprache als nationales Thema 203
- 4.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Fiume / Rijeka 207
- 4.3 Fazit: Reaktiver Selbstschutz ländlicher Katholiken 236
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 5. Konfliktdynamiken: Nationale Nonkonformität und religiöse Peripherie 241
- Ausblick 257
- Quellen- und Literaturverzeichnis 263
- Archivmaterial 263
- Bibliotheken 265
- Zeitungen 265
- Digitale Sammlungen 267
- Zeitgenössische Literatur 267
- Sekundärliteratur 268
- Ortsnamen in den landesüblichen Sprachen 289
- Personen 295
- Verzeichnis von Abbildungen, Karten und Tabellen 297
- Abkürzungen 299
- Register 301
- 1. Ortsregister 301
- 2. Personenregister 303