Seite - 9 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN
„KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“?
1.1 Forschungsstand, Quellen und theoretische Ansätze
In der Erzählung Budapest, Wien, Budapest des ungarischen Schriftstellers und
Übersetzers Imre Kertész (geb.
1929) reist dieser im September 1989 auf Einla-
dung der Österreichischen Gesellschaft für Literatur (ÖGL) nach Wien und
besucht eine Vorstellung von Thomas Bernhards Heldenplatz im Burgtheater.
An einem Punkt der Erzählung versucht er einen gewissen „Dr. K. ein wenig
über [Thomas] Bernhard auszufragen: Er hat ihn gut gekannt, sie waren früher
sogar befreundet. Bernhard sei mit fortschreitender Krankheit immer unver-
träglicher geworden, sagt er. ‚War er auch erfolgssüchtig?‘ frage ich. Mit zuneh-
mendem Alter immer mehr, antwortet K. Es gäbe peinliche Geschichten über
seine Wankelmütigkeit, seine unerträglichen Launen. Bewegt höre ich zu.“1
Die Figur „Dr. K.“ ist nicht weiter schwer zu dechiffrieren: Es handelt sich
um den Publizisten Wolfgang Kraus, den Gründer und langjährigen Leiter der
ÖGL. Obwohl hier als positive literarische Figur verewigt, könnten die litera-
turgeschichtlichen Stellungnahmen und Bewertungen zu seiner Person und sei-
nen Tätigkeiten ambivalenter nicht sein. So findet Thomas Rothschild die „Kon-
zentration von Macht und ihr[en] Missbrauch“2 in Kraus verkörpert und meint,
dass dieser „lange Zeit die Literaturpolitik mit einer konkurrenzlosen Selbstherr-
lichkeit, wie sie selbst in den totalitären Staaten des sowjetischen Machtbereichs
selten war“,3 bestimmte. Rothschilds Gleichsetzung von Kraus mit einem so -
wjetischen Kulturfunktionär im totalitären System erscheint äußerst provozie-
rend und polemisch. Wie bekannt ist, führte die umfassende Kontrolle von außen
dazu, dass sowjetische Schriftstellerinnen und Schriftsteller einen „‚inneren
Zensor‘“4 entwickelten, was wohl für den Literaturbetrieb in Österreich nicht
1 Imre Kertész: Budapest Wien Budapest. 15 Bagatellen. In: Ders.: Die exilierte Sprache. Essays
und Reden. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 17–41, hier S. 32.
2 Thomas Rothschild: Österreichische Literatur. In: Klaus Briegleb, Sigrid Weigel (Hg.): Hanser
Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16.
Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 12: Gegen-
wartsliteratur seit 1968. München: dtv 1992, S. 667–702, hier S. 676.
3 Thomas Rothschild: Die besten Köpfe. Der Kanon der Österreichischen Gesellschaft für Literatur.
In: Wendelin Schmidt-Dengler, Johann Sonnleitner, Klaus Zeyringer (Hg.): Die einen raus – die
anderen rein. Kanon und Literatur: Vorüberlegungen zu einer Literaturgeschichte Österreichs.
Berlin: Erich Schmidt 1994 (= Philologische Studien und Quellen 128), S. 126–133, hier S. 130.
4 Vgl. zur Kulturpolitik in der Sowjetunion u. a. Karen Laß: Vom Tauwetter zur Perestrojka. Kul-
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437