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Kraus vermutlich hinsichtlich dieser verstärkten katholischen Aktivitäten auch
der Zerfall der Sowjetunion in die Quere, entwickelte er doch bald darauf ein
anderes kulturpolitisches Konzept, das als „Österreich-Bibliothek“ in den ehe-
maligen Ländern des realen Sozialismus etabliert wurde.
1985 hielt Kraus einen Vortrag mit dem Titel „Kunst als Überschreitung“ in
den Innsbrucker Kammerspielen, worin er die Ansicht vertrat, dass „die Bezie-
hung zwischen der Kunst, die von Anfang an eng mit religiösem Empfinden
verbunden war, und der Wirklichkeit heute, in einer Zeit der Ratlosigkeit und
Desillusionierung immer problematischer werde. Es bestehe die Gefahr, Kunst
mit Wirklichkeit gleichzusetzen und als Religionsersatz zu verstehen. Eine ‚frei-
schwebende‘ Ästhetik sei aber unmöglich.“114
4.1.4 Avantgarde und Provinzialismus
Diese „‚freischwebende‘ Ästhetik“ sah Kraus in avantgardistischer und experi-
menteller Literatur realisiert, der er äußerst skeptisch, teilweise auch ablehnend
gegenüberstand und die er als literaturästhetisches Produkt einer „Übergangs-
zeit“ ansah, insbesondere, wenn es sich um österreichische Autorinnen und
Autoren handelte. Darüber hinaus war experimentelle Literatur für ihn stets
„linken“ Ideologien und einem literarischen „Provinzialismus“ zurechenbar: „Ist
‚links‘ in die provinzielle Nachhut oder Pseudoavantgarde der Kleinstädte abge-
sunken? Progressivität als Provinzkompensation? Graz, Zürich, Hamburg. […]
Die Provinz ist reaktionär oder radikal.“115
Der historischen Avantgarde stand er jedoch durchaus positiv gegenüber, gab
er 1961 doch gemeinsam mit Herbert Zand den Band Symbole und Signale. Frü-
he Dokumente der literarischen Avantgarde heraus, der Texte von Charles Bau-
delaire, Edgar Allan Poe, Arthur Rimbaud, Lautréamont und Stéphane Mallarmé
versammelte.116 Die klassische Moderne akzeptierte Kraus noch als ein gegebe-
nes literaturhistorisches Faktum. Mit der zeitgenössischen Avantgarde aus Öster-
reich verhielt es sich anders, wie auch eine Diskussion im Rahmen der Frankf-
urter Buchmesse 1970 aufzeigt. Dort tappte Kraus bei einer Diskussion, an der
u. a. Ernst Jandl und H. C. Artmann beteiligt waren, ins „Fettnäpfchen“, da er
auf die Frage eines bundesdeutschen Journalisten, „warum die jungen österrei-
chischen Autoren nicht von ihrer Heimat aus, sondern in Deutschland bekannt
114 U. Mayr: Die Kraftquellen der Kunst ersetzen weder die Wirklichkeit noch die Religion. In:
Tiroler Tageszeitung, 25. November 1985, S. 7.
115 Wolfgang Kraus: Tagebuch, 3. Oktober 1976, NL WK.
116 Vgl. Wolfgang Kraus, Herbert Zand (Hg.): Symbole und Signale. Frühe Dokumente der litera-
rischen Avantgarde. Bremen: Schünemann 1961.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Avantgarde und Provinzialismus 223
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437