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3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur
„Meine bitter-bösen Erinnerungen“, schrieb Jakov Lind 1967 an Wolfgang
Kraus, „sollen Sie weiter nicht schmerzen. Die Wunde vor ca. 30 Jahren geschla-
gen, wird bei mir nicht mehr heilen. Hätte es mehr als zehn Gerechte (zu denen
Sie gehören) gegeben, wäre meine Stadt und meine Liebe für Österreich nicht
zerstört worden.“273 Lind war unter den ersten Exilautorinnen und -autoren,
die von der ÖGL eingeladen wurden: Am 2.
November 1962 las er aus seinem
Erzählband Eine Seele aus Holz, der bei Luchterhand erschienen war, zu den
meist besprochenen Neuerscheinungen der Frankfurter Buchmesse 1962 zähl-
te und sofort in zehn Sprachen übersetzt wurde. Der 1927 als Heinz Landwirth
geborene Lind war 1938 mit einem Kindertransport in die Niederlande geflüch-
tet und 1943 mit falschen Papieren nach Deutschland gegangen, wo er unter
dem Namen Jan Gerrit Overbeek auf einem Rheinschlepper tätig war. In der
zweiten Hälfte der 1940er Jahre lebte er in Israel, kehrte 1950 nach Wien zurück,
wo er am Max-Reinhardt-Seminar eine Schauspielausbildung absolvierte, und
ging 1954 nach London. Vielleicht lag der Grund für seine Einladung nicht
nur am Erfolg seines literarischen Debüts, sondern auch daran, dass er „in
einer Periode, als das offizielle Österreich seine ehemals abgewiesenen Bürger
wieder für sich entdeckte und unter dem Etikett ‚Exilliteratur‘ eine Eingemein-
dung versuchte, diese für sich strikt abgelehnt“274 hat und sich nie zu ihr bekann-
te. Denn bei genauerem Studium des Programms der ÖGL entsteht der Ein-
druck, dass zwar ein kulturpolitisches Versäumnis der Nachkriegszeit aufgeholt
wurde, sich die spezifische Einladungspraxis dennoch kulturpolitischen Rah-
menbedingungen zu fügen hatte: So kam von Kraus etwa der Vorschlag, Lind
solle sich an einer Diskussion zum Thema „Literatur und ‚unbewältigte‘ Ver-
gangenheit“ beteiligen, weil er fand, dass dieser „Komplex (der uns ja viel weni-
ger beschäftigt als die Deutschen), einmal aufzulösen“275 sei. Doch kam es nicht
dazu, denn „eine dringend eingeschobene Diskussion über aktuelle Probleme
der Bundestheater“276 blockierte den Termin. Die innerösterreichische kultur-
politische Situation schiebt sich hier vor eine Veranstaltung, die der Aufarbei-
tung der NS-Vergangenheit gewidmet ist, was durchaus stellvertretend für die
kulturpolitischen Prämissen der 1960er Jahre gelesen werden kann. Schrift-
steller wie Lind, aber auch Erich Fried lagen dem „Linkskonservatismus eines
273 Jakov Lind an Wolfgang Kraus, 1. März 1967, ÖGL-Archiv.
274 Ursula Seeber: Der unheimliche Dichter. Zur deutschsprachigen Rezeption von Jakov Lind. In:
Helga Schreckenberger (Hg.): Ästhetiken des Exils. Amsterdam [u. a.]: Rodopi 2003 (= Amster-
damer Beiträge zur neueren Germanistik 54), S. 333–352, hier S. 333.
275 Wolfgang Kraus an Jakov Lind, 28. Februar 1964, ÖGL-Archiv.
276 Ders. an Jakov Lind, 31. März 1964, ÖGL-Archiv.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437