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mehr als empört: „Ausgerechnet wegen der Ignorierung eines Emigranten greift
man mich an! Sollte man nicht auch Canetti, Sperber, Esslin, Fried und Lind,
Hochwälder und viele andere fragen? Außer Kuhner muß und wird es noch vie-
le von mir enttäuschte Autoren in Österreich geben.“370
3.6 Forum der Jugend
Das „Forum der Jugend“ war quasi die „Jugendschiene“ der ÖGL, die 1962 ein-
geführt wurde, um „aufgeschlossenen jungen Menschen (16 bis 18
Jahre) einen
lebendigen Kontakt“ mit der österreichischen Gegenwartsliteratur zu vermitteln.
Das „Forum“, als Arbeitskreis gedacht, in dessen Rahmen bedeutende Werke
zeitgenössischer Autorinnen und Autoren „in den Zusammenhängen der Lite-
raturtradition Österreichs“ zur Analyse gestellt wurden, um österreichische Lite-
raturgeschichte zu vermitteln und avancierte Formen der Textinterpretation zu
erlernen. Dazu wurden durchaus auch berühmte Namen engagiert, um aus eige-
nen Werken zu lesen und Einblick in die eigene literarische Werkstatt zu geben.371
Die „Leiter“ der ÖGL für die Jugend waren u. a. Gerhard Rindauer, Dozent
für Germanistik an den Universitäten Glasgow und Cambridge, Rüdiger Engerth,
aber vor allem Kurt Benesch und Gerhard Fritsch. Wie sich Helmuth
A. Nieder-
le erinnert, lehrte Fritsch „uns Texte kritisch zu betrachten, keine Nachsicht zu
üben, keine Vorbildung mitzunehmen, sondern den Text wie unter einem Elek-
tronenmikroskop zu sehen; jede Kleinigkeit zu beachten, um den Aufbau der
gesamten Struktur zu erkennen, setzte voraus, daß einem Text kein Mitleid ent-
gegengebracht werden sollte.“372
Kraus’ Sohn Herbert berichtete ab 1962 jährlich über die Veranstaltungen des
„Forums“ in der Zeitschrift „Neue Wege“ und bemerkte im ersten Rückblick,
dass man anfangs mit einer „eher geringen Anzahl literarisch Interessierter“
rechnete, jedoch war spätestens bei der Diskussion über die Werke Franz Kafkas
im selben Jahr der Saal überfüllt. 1972 würdigte Herbert Kraus das „Forum der
Jugend“ und insbesondere die Veranstaltungen Fritschs in der Zeitschrift „Die
Pestsäule“ und konstatierte, dass „wir ‚Jungen‘ in dieser einen Saison 1963/1964
[…] mehr gelernt hätten, als in vielen Semestern Germanistik, selbst, wenn wir
sie an deutschen Universitäten belegt hätten“.373
370 Wolfgang Kraus: Tagebuch, 19. Jänner 1977, NL WK.
371 Vgl. Neue Wege 18 (November 1962). Zit. n. Jahresbericht der ÖGL, 11.
Jänner 1963, NL WK.
372 Helmuth A. Niederle: Der Sprache auf der Spur. In: protokolle 24 (1989), H. 2, S. 59–62, hier
S. 61.
373 Herbert Kraus: Die Sprache und die Jugend. Erinnerungen eines Seminarteilnehmers an Ger-
hard Fritsch. In: Die Pestsäule 2 (1972), H. 3, S. 268.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
180 Die Österreichische Gesellschaft für Literatur (1961–1975)
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437