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man neben den Ereignissen des Jahres 1968 („Studenten in Aufruhr“) auch
Václav Havel eine Veranstaltung sowie dem dokumentarischen Stück von Rolf
Schneider, Prozeß in Nürnberg. Auch eine Diskussion über das „Österreichbild
in der zeitgenössischen Literatur“ fand Platz im Programm. In der Saison
1969/1970 traten Hermann Kesten, Ilse Aichinger, Manès Sperber, Hilde Spiel,
Christine Busta und Ernst Jandl zu Lesungen vor der literaturinteressierten
Jugend auf.
Wie Benesch 1970 ausführte, habe das Interesse an experimenteller Literatur
eines H. C. Artmann, Gerhard Rühm oder Ernst Jandl unter der jungen Gene-
ration sukzessive abgenommen, weil sie sich „eher Antworten auf ihre eigenen
Probleme oder Fragen, die die Weltöffentlichkeit in zunehmenden Maße bewe-
gen“, erwarteten: „Jene Literatur, die sich, bar jeder Handlung auf reine Sprache-
xperimente beschränke, finde bei 16-20jährigen Mittelschülern und Studenten
kein Interesse.“380
3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn
„Dazu der k.
u.
k. Schemenglanz und irgendwo Lanner, man war ein bißchen in
Wien. Nicht in dem von vier Mächten besetzten, das in Zeitläuften ‚Kalten Kriegs‘
der Welt die ‚Friedliche Koexistenz‘ vorexerziert hatte und eben den Aust-
ria-Staatsvertrag unter Dach schaffte, sondern in Traum-Wien… Fata morgana“381
Dieses literarische Wien-Bild, das Ulrich Becher in seinem die österreichische
Zeitgeschichte zwischen 1918 und 1955 kritisch behandelnden Roman kurz nach
vier (1957) entwirft, erfasst in Kürze, aber umso präziser ein Element, dessen
sich die österreichische Außenpolitik hinsichtlich seiner kommunistischen Nach-
barstaaten bediente und dem auch die ÖGL bei ihrer Programmierung verpflich-
tet war. Bei der Analyse des Programms der ÖGL fällt der starke Überhang von
osteuropäischen Autorinnen und Autoren auf, was nicht nur ein selbstgewählter
Programmpunkt im Konzept der ÖGL war, sondern durchaus kulturpolitischen
Prämissen gehorchte, die vom Unterrichtsministerium vorgegeben wurden. So
erklärt Kraus etwa Frank Zwillinger, der ergebnislos auf eine Einladung wartet:
Das Ministerium, das uns ja den Auftrag gegeben hat, vor allem den kulturellen
Kontakt mit den Nachbarländern zu pflegen, weist uns in letzter Zeit eine solche
Fülle von Aufgaben zu, dass wir in den uns noch zur Verfügung stehenden Wochen
[…] einfach jede Woche eine Veranstaltung haben. Mehr lässt sich beim besten
380 N.N.: Wörter sind nicht genug. „Konkrete Literatur“ interessiert die Jugend nicht. In: Volks-
blatt, 15. Jänner 1970, S. 9.
381 Ulrich Becher: kurz nach vier. Hamburg: Rowohlt 1957, S. 101.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Titel
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Autor
- Stefan Maurer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Abmessungen
- 15.8 x 24.0 cm
- Seiten
- 452
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437