Seite - 285 - in Jemen - Traumhafte Bauten, Wilde Landschaften
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BAUFORMEN
Rundtürme mit aufgebauten Kleinpalästen
Im Jemen fallen vor allem im Norden immer wieder
Rundtürme auf, auf denen ganz oben jeweils ein
palastähnlicher, meist völlig rektangulärer, zumindest
an zwei Seiten, manchmal auch an allen vier Sei-
ten vortretender Baukörper aufgesetzt wurde. Die
meisten dieser Türme sind aus Lehmziegeln errichtet.
Die aufgesetzten Bauten hingegen sind meist aus ge-
brannten, seltener aus ungebrannten Ziegeln gebaut.
Es scheint sich bei den Bewohnern dieser Aufbauten
um örtliche Kleinfürsten gehandelt zu haben, denen
die Behausung in luftiger Höhe wohl ein Gefühl der
Abgehobenheit, des besseren Überblicks, vielleicht
auch damit verbunden, der Kontrolle und Macht ver-
mittelt haben dürfte.
Selbst in Sanaa gleich nördlich der Dome-Muta-
wakkil Moschee nördlich des Tahrir Platzes steht ein
solcher Turm. Der untere Teil des Turmes ist in saube-
rem Natursteinmauerwerk ausgeführt. Darüber folgt
ein hoher Schaft in Lehmmaterial. Über diesem folgt
dann der aufgesetzte zweigeschoßige Palast, der in
gebrannten Ziegeln errichtet wurde. Dieser Palastauf-
satz folgt in manchen Abschnitten der Rundung des
Turmunterbaues, steht dann aber nach Osten und
Westen etwas vor, nimmt hier eine rektanguläre Form
an, an anderen Stellen tritt er zurück und macht für
kleinere Terrassen mit Brüstungen Platz. Angesichts
des darunter entlangbrausenden starken Verkehrs
wird er inzwischen seine ursprüngliche Funktion wohl
verloren haben.
Die meisten dieser Türme waren 1991 bereits ver-
lassen und verfielen langsam. Die Kombination der
so unterschiedlichen Bauformen, des zylindrischen
Turmes mit dem rechtwinkeligen Baukörper oberhalb
erschien mir damals etwas befremdlich und zugleich
auch kühn (siehe S. 52, Abb. 38, S. 191, Abb. 210
und S. 199, Abb. 221).
Dahinter verbirgt sich meist der Wunsch nach einem
stützenfreien größeren Raum. Spannt man einen
Holzbalken über eine größere Distanz, dann biegt
er sich in der Mitte des Raumes mehr oder weniger
stark durch. Um dieses Durchhängen zu verringern,
kann man ihn auf halbem Weg unterstützen. Man
kann ihn aber auch stattdessen an beiden Balken-
enden “vorspannen“. Die obersten Stockwerke sind
im Jemen oft ganz oder teilweise als “Kat-Raum“
genutzt. In diesen Räumen will man sich am Nach-
mittag mit Freunden aufhalten und kommunizieren
können. Dies geschieht gewöhnlich während des
Konsums von Kat. Daneben will man sich unterhal-
ten und Informationen austauschen. Stützen können
in so einem Raum die Sicht behindern. Daher nutzt
man den Vorspanneffekt durch das Belasten der et-
was nach außen überstehenden Deckenbalken an
beiden Enden. Hierdurch hängt bei solchen Räumen
bei großer Spannweite ein Deckenbalken deutlich
weniger durch. Auch bei vielen modernen weitge-
spannten Brücken wird genau dieser Effekt noch
heute genutzt.
Da die Hölzer oft nicht hart genug sind, um eine
hohe Belastung in einem Punkt zu übernehmen, ver-
wendet man kurze Zwischenhölzer über den vorkra-
genden Deckenbalken. Dadurch entstehen in den
Fassaden solcher Häuser ganze Zeilen von T-förmi-
gen Fassadenelementen, die oft wohl auch zur Ge-
staltung der Fassaden bewusst eingesetzt wurden.
Über den T-Elementen liegt dann jeweils ein Streich-
balken, auf dem die etwas vorkragende Wand zum
Teil lastet. Dort, wo kein weiteres Stockwerk mehr
folgt, gibt es dann eine vorkragende Brüstung einer
Dachterrasse, welche die Deckenbalken außen an
den Balkenenden belastet (siehe S. 132, Abb. 136
bis S. 135, Abb. 141).
Interessanterweise gab es in der Konstruktion und
auch in der Gestaltung ganz ähnliche Bauten bereits
zwischen 900 und 600 v. Chr. in der urarthäischen
Kultur in der Osttürkei um den Van-See. Das belegen
recht naturalistische Bronzereliefs von dreigeschoßi-
gen Wohnbauten mit vortretenden Brüstungen bei
ihren Dachterrassen. Die Brüstungen haben auch
hier wieder aus Stützgliedern und Ziegelgitter-Mem-
branen dazwischen bestanden. So haben sie eine
starke Ähnlichkeit mit den jemenitischen Brüstungen
beispielsweise in Sif. Wie weit es einen direkten oder
einen indirekten Zusammenhang mit den heutigen
Bauten im Jemen gibt, wird wohl schwer zu beant-
worten bleiben. Es liegen 2800 km Luftlinie geografi-
sche Entfernung und 2600 bis 2900 Jahre zeitliche
Distanz zwischen diesen Bauten.
Jemen
Traumhafte Bauten, Wilde Landschaften
- Titel
- Jemen
- Untertitel
- Traumhafte Bauten, Wilde Landschaften
- Autor
- Hasso Hohmann
- Verlag
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-670-3
- Abmessungen
- 20.0 x 27.0 cm
- Seiten
- 308
- Schlagwörter
- Vorderasien, arabische Halbinsel, Sanaa, Aden, Architektur
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkungen 7
- Einige Tage Ägypten 17
- Reise durch den Jemen 29
- Altstadt von Sanaa 33
- Kleidung von Männern und Frauen 42
- Die leichte Droge Kat 56
- Marib 60
- Die Salayman Ibn Dawud Moschee 73
- Säulen und ihre Kapitelle 74
- Flug ins Wadi Hadramaut 78
- Wasserhäuser 84
- Tarim 86
- Türen und ihre hölzernen Fallenschlösser 93
- Vergleich mit Türschlössern auf Tinos 100
- Mausoleum in Al Ghurfa 107
- Schibam 108
- Seiyun 124
- Auskragungen und Vorspanneffekte 133
- Hureida 139
- Hadjarein 142
- Chrecher 142
- Sif 144
- Bienenhaltung in Amphoren 152
- Al Mukalla 157
- Fahrt nach Aden 165
- Aden 168
- Taiz 175
- Saada 195
- Schahara 202
- Fahrt nach Sanaa 209
- Amran 209
- Thulla 213
- Kaukaban 218
- Kuchlan 224
- Al Qurazihah, ein Kral der Tihama 229
- Hodeida 233
- Zabid 236
- Hadjara 242
- Rauda 249
- Baynun 254
- Zurück entlang des Roten Meeres 268
- Siedlungsformen 273
- Bauformen 277
- Architekturdetails 287
- Apendix