Seite - 35 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Fernsehintendant des ORF, Wolf In der Maur, im August 1960 eine Aufführung
von Bernhards Kurz-Oper Köpfe sowie seiner Einakter Frühling, Rosa und Die
Erfundene am Kärntner Tonhof ablehnend besprochen. Gerhard Lampersbergs
„serielle Musik“ und „Thomas’ [sic] Dichtungen“ hätten das Publikum „eher ratlos“
zurückgelassen (zit. nach TBW 22.1, 837). Außerdem wirft In der Maur sowohl
dem Autor als auch dem Komponisten vor, für eine bloß sekundäre, epigonale
Modernität zu stehen, wobei avantgardistischer Anspruch und künstlerische
Wirklichkeit auseinanderklafften:
Beide schwören darauf, daß das, was sie machen, nicht bloß modern, sondern schlecht-
hin Gegenwartskunst sei. Beide wandeln dennoch auf Pfaden, die seit den frühen
zwanziger Jahren immer wieder von experimentierfreudigen Künstlern und deren
Epigonen mit Ausdauer eingeschlagen wurden, ohne indessen zu ‚bleibenden Werten‘
zu gelangen. (zit. nach TBW 22.1, 837)
Bernhard replizierte in der folgenden Ausgabe der Wochenpresse mit einem
Leserbrief auf den seiner Meinung nach „merkwürdigen Bericht“, der nicht
nur sachlich inkorrekte Angaben zu seinen Publikationen beinhalte, sondern
auch eine Äußerung zur „Gegenwartskunst“ wiedergebe, die er so nie getätigt
habe: „[I]ch habe mich zu der ‚Darbietung‘ auf dem Tonhof in weiser Voraus-
sicht überhaupt nicht geäußert, geschweige denn eine Pubertätsbehauptung, wie
die mir von Ihrem Rezensenten ‚in den Mund geworfene‘, aufgestellt.“ (TBW
22.1, 631) Zur Verteidigung der eigenen künstlerischen Arbeit zögert Bernhard
indes nicht, die Verantwortung für ein etwaiges Misslingen der Aufführung auf
andere Beteiligte abzuwälzen; „daß die Darstellung auf der ‚Bühne‘ mit dem
Text nur mehr sehr wenig zu tun gehabt hat“, sei jedenfalls „nicht Schuld des
erst zur Premiere erschienenen verblüfften Autors“ gewesen (TBW 22.1, 631).36
Der Leserbrief kann folglich auch als Dokument der allmählichen Entzweiung
von Lampersberg und Bernhard gelesen werden,37 als Hinweis auf die demons-
trative Emanzipation des jungen Autors von den Orten und Netzwerken seiner
frühen literarischen und intellektuellen Sozialisation. Gut zwanzig Jahre später
sollte Bernhard in Holzfällen (1984) mit der Charakterisierung des Protagonis-
ten Auersberger als „Komponist in der Webern-Nachfolge“ (TBW 7, 11), der als
„steiermärkische[r] Epigone“ in ebenjener „Webernachfolge steckengeblieben“
sei (TBW 7, 62), die von Wolf In der Maur formulierte Kritik an der ‚epigonalen
36 Vgl. dazu auch den Kommentar in TBW 22.1, 836 f., sowie die Dokumentation in: Sehr geschätzte
Redaktion. Leserbriefe von und über Thomas Bernhard. Hg. v. Jens Dittmar. Wien: Edition S
1991, S. 17 – 20.
37 Vgl. Wieland Schmied: Auersbergers wahre Geschichte und andere Texte über Thomas Bernhard.
Ein Alphabet. Vorwort v. Hans Höller. Weitra: Bibliothek der Provinz [2014], S. 18 – 20.
Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 35
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471