Seite - 40 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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keine ganz leichte Lektüre, aber eine lohnende. So wie es sich gelohnt hat, unsere
Sehweise beim Betrachten von Bildern seit einer Reihe von Jahrzehnten zu ändern
und neu einzuüben. Ein Roman, der uns als erkennende Wesen in Frage stellt, ein
Autor, der weiß, worauf es ankommt, und der Grundlagenforschung betreibt. Man
vertraue sich ihm an.52
Das Buch, dem Scheffel einen „weit über dem Durchschnitt liegenden Rang“,
besonders „in der Nutzung sprachlicher Möglichkeiten“, bescheinigt,53 war zum
Zeitpunkt der Rezension noch gar nicht in den Buchhandlungen erhältlich; erst
am nächsten Tag berichtet Unseld seinem Autor von „ersten Bindemuster[n]“
der Hornissen und „letzte[n] Änderungen, die die Farbe des Rückenschildes und
des Kopfschnitts betrafen“.54 Dem Brief vom 16. März 1966 legte Unseld bereits
Scheffels „gute Besprechung“ bei und bestätigte außerdem die Einladung Hand-
kes zum Treffen der Gruppe 47 in Princeton. Er habe Hans Werner Richter, den
spiritus rector der Gruppe, gebeten, den Suhrkamp-Debütanten in die USA ein-
zuladen: „Hoffentlich können Sie es einrichten, es wäre sehr schön, wenn wir
einige Tage gemeinsam in Amerika verbringen könnten.“ 55 Handke antwortete
umgehend, zeigte sich mit Blick auf die künftige kritische „Reaktion“ auf das
eben erschienene Buch zuversichtlich und dankte Unseld herzlich dafür, die
Einladung nach Princeton in die Wege geleitet zu haben: „Ich werde alles daran
setzen, daß ich kommen kann. Ich glaube, es ist fast sicher. Ich freue mich sehr
auf diese Reise, ich war noch nie in den Vereinigten Staaten.“ 56
Alle folgenden, erst knapp zwei Monate später einsetzenden Besprechungen
der Hornissen erschienen bereits unter dem Eindruck jenes vielbeachteten Auf-
tritts in Princeton vom April 1966, der das Image des Autors im Feuilleton nach-
haltig prägen und damit auch Rezeption und Rezensionspraxis seiner literari-
schen Werke nur zu deutlich beeinflussen sollte, wie Handke 1973 im Rückblick
beklagt hat: „Nur bei der Rezension in der FAZ war nur das Buch da und der
Autor noch nicht. Bei allen andern Rezensionen dieses ersten Buches wurde die
52 Helmut Scheffel: An der Erfahrungsgrenze. Die Hornissen
– Der erste Roman von Peter Handke.
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 3. 1966.
53 Ebd. Zu Scheffels Rezension vgl. auch Christel Terhorst: Peter Handke. Die Entstehung litera-
rischen Ruhms. Die Bedeutung der literarischen Tageskritik für die Rezeption des frühen Peter
Handke. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 1990, S. 44 – 46. – In seinem letzten Rundfunk-Feuilleton
für Radio Steiermark würdigte Handke im September 1966 den von Scheffel aus dem Franzö-
sischen übertragenen Band Zeit und Raum bei Marcel Proust von Georges Poulet (vgl. Peter
Handke: „Bücherecke“ vom 12. 9. 1966. In: P. H.: Tage und Werke (Anm. 31), S. 281 – 283, hier
S. 282 f.).
54 Unseld an Handke, 16. 3. 1966. In: Handke/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 16), S. 31.
55 Ebd., S. 31 f.
56 Handke an Unseld, 22. 3. 1966. In: ebd., S. 33.
„ich kann mich damit schwer abfinden“: Kritik der Kritik als
Werkpolitik40
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471