Seite - 46 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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von Werkstattgesprächen, in denen sich die Autoren gegenseitig zu helfen versu-
chen, so erhält sie durch diese Kritiker zunehmend Merkmale einer richtenden
Instanz.“ 81 Zahlreiche Autoren äußerten angesichts dieser Entwicklung ihren
Unmut über die Herrschaft der „Kritiker der ersten Reihe“;82 Hubert Fichte
schlug im November 1964 Hans Werner Richter gar ein eigenes Treffen als aus-
gewiesene „Tagung der Kritik“ vor, bei der die Kriterien der Kritiker auf dem
Prüfstand stehen müssten: „Es würde hart zugehen
– aber es wäre eine Wohltat
für den deutschen literarischen Betrieb und würde vielleicht vermeiden, daß die
Hohlheit weiteren Raum gewinnt.“ 83
Für Handke, der sich schon 1964 bis 1966 in Rundfunkfeuilletons für das
Landesstudio Steiermark parallel zur eigenen schriftstellerischen Arbeit einer
kritischen Sichtung jeweils aktueller literarischer wie theoretischer Positionen
gewidmet hatte, führte die beschriebene Entwicklung außerdem zu einer im
Grunde unzulässigen und unfruchtbaren Arbeitsteilung zwischen Schriftstellern
und professionellen Kritikern, wie sie
– freilich unter ganz anderen ideologischen
und literaturtheoretischen Prämissen
– Georg Lukács Ende der 1930er Jahre als
Symptom kapitalistischer Logiken im Literaturbetrieb beschrieben hatte.84 In
seiner im Anschluss an die Tagung publizierten Rückschau auf die Ereignisse hat
Handke betont, die Gruppe 47 zwar „wenig“ gekannt zu haben, jedoch „neugierig
81 Oliver Pfohlmann: Literaturkritik in der Bundesrepublik. In: Literaturkritik. Geschichte –
Theorie
– Praxis. Hg. v. Thomas Anz u. Rainer Baasner. München: C. H. Beck 42007, S.
160 – 191,
hier S.
163. Vgl. ebd., S.
168. Handke hat fast 50
Jahre später in einem Gespräch mit Julia Encke
die Kommunikationssituation zwischen Autoren und Kritikern bei den Treffen der Gruppe 47
folgendermaßen beschrieben: „Und wie die erste Reihe, wo die Kritiker saßen, mit diesen Auto-
ren umgegangen ist, das hat mich empört. Das ging doch nicht, dass man sie heruntermachte
und mit ihnen redete als wären sie Schulbuben. Ich habe es verachtet, wie Reich-Ranicki und
Walter Jens da ihre Schnöseleien brüllten.“ (Julia Encke: Schimpfen ist ein Ausdruck von Hilf-
losigkeit. [Gespräch mit Peter Handke.] In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 41,
11. 10. 2015, S.
53) Vgl. dazu auch Handkes Äußerung im Gespräch mit seinem Biographen Malte
Herwig: „Wie können diese drei Leute, die zumindest ich verehrt hab damals
– Grass, Johnson,
Weiß [sic]
–, wie können die sich von diesen Jammergestalten wie dem Reich-Ranicki, der kräht
und schreit und die Menschen niedermacht
…“ (Malte Herwig: Meister der Dämmerung. Peter
Handke. Eine Biographie. München: DVA 22010, S. 143).
82 Delius: Als die Bücher noch geholfen haben (Anm. 78), S. 36.
83 Hubert Fichte an Hans Werner Richter, 8. 11. 1964. In: H. W. R.: Briefe. Hg. v. Sabine Cofalla im
Auftrag der Stiftung Preußische Seehandlung und der Textkritischen Arbeitsstelle der Freien
Universität Berlin. München: Hanser 1997, S. 538.
84 Vgl. Georg Lukács: Schriftsteller und Kritiker. [1939] In: G. L.: Schriften zur Literatursoziologie.
Hg. v. Heinz Maus u. Friedrich Fürstenberg. Neuwied, Berlin: Luchterhand 41970, S. 198 – 212,
bes. S.
198 f.
– Varianten dieser Deutung finden sich in den zeitgenössischen Debatten etwa bei
Peter Hamm: Der Großkritiker. Literaturkritik als Anachronismus. In: Kritik
– von wem
/ für
wen
/ wie (Anm.
65), S.
20 – 39, hier S.
20: „Hinter all dem steht das Problem der kapitalistischen
Arbeitsteilung, die auch aus den Schriftstellern und Kritikern Spezialisten gemacht hat.“
„ich kann mich damit schwer abfinden“: Kritik der Kritik als
Werkpolitik46
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471