Seite - 48 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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damit, im Rahmen der Deutschen Theaterwoche in Stockholm âwieder den Reden
einiger Kritiker zugehörtâ zu haben: âJetzt ist mir klar, daĂ ich einfach nicht zur
Tagung kommen kann, obwohl ich doch ganz gern einige Leute getroffen hĂ€tte.â 89
Nun darf freilich nicht unterschlagen werden, dass Handke mit seinem öffent-
lich artikulierten Einspruch gegen die zeitgenössische Literaturkritik und seinem
Zweifel an deren analytischem Instrumentarium im literarischen Feld der 1960er
Jahre keineswegs auf einsamem Posten agierte. Ein verbreitetes âUnbehagen an
Praxis und gesellschaftlicher Funktion der Kritikâ 90 war, wie einschlĂ€gige Debatten
zeigen, bereits vor Handkes Polemik gegen die kritischen Instanzen der Gruppe
47 und das von ihnen reprÀsentierte literarische Establishment allenthalben fest-
zustellen gewesen.91 Theodor W. Adorno hatte, wenngleich unter anderen histori-
schen PrĂ€missen, schon Anfang der 1950er Jahre einen âVerfall der literarischen
Kritikâ beklagt, der ein Symptom des âzugleich desorganisierten und epigonalen
BewuĂtseinszustandsâ im postnazistischen Deutschland sei.92 Nun, ein gutes Jahr-
zehnt spÀter, meldeten sich in Zeitschriften wie konkret und anderen alternativen
Foren zahlreiche junge Autorinnen und Autoren in dieser Causa zu Wort und
diagnostizierten im Zusammenhang eines engagiert-emanzipatorischen Ver-
stĂ€ndnisses von Literatur diverse âMĂ€ngel der gegenwĂ€rtigen Literaturkritikâ.93
FĂŒr das 1965 von Hans Magnus Enzensberger ins Leben gerufene Kursbuch etwa
wurde in der programmatischen âAnkĂŒndigung einer Zeitschriftâ nicht nur eine
grundlegende Offenheit fĂŒr âneue[Â ] Poesie und neue[Â ] Prosaâ als Losung aus-
gegeben, sondern auch das Feld der Literaturkritik explizit thematisiert:
89 Peter Handke an Hans Werner Richter, 22. 9. 1967. In: Richter: Briefe (Anm.Â
83), S.Â
651, Anm.Â
2.
Zu Handkes Rolle bei der Deutschen Theaterwoche Stockholm 1967 vgl. den Kommentar in
Handke/Unseld: Der Briefwechsel (Anm.Â
16), S.Â
87, Anm.Â
1; zu Handkes Absage an Richter vgl.
Böttiger: Die Gruppe 47 (Anm. 79), S. 409 f.
90 Pfohlmann: Literaturkritik in der Bundesrepublik (Anm. 81), S. 169.
91 Eine (zum Teil retrospektive) Ăbersicht ĂŒber die Debatten bietet der folgende Band: Kritik
der Literaturkritik. Hg. v. Olaf Schwencke. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1973, der aus dem im
FrĂŒhjahr 1971 veranstalteten Kolloquium an der Evangelischen Akademie Loccum hervorging
und bereits in den einleitenden Bemerkungen des Herausgebers von einer persistenten âKrise
der Literaturkritik in Deutschlandâ (ebd., S.Â
14) handelt. Der Band enthÀlt zahlreiche BeitrÀge
prominenter Kritiker, darunter Lothar Baier, Heinrich Vormweg und Klaus Stiller, aber â fĂŒr
das damalige intellektuelle Establishment durchaus bezeichnend â keinen einzigen Text einer
Autorin, Literaturkritikerin oder Philologin.
92 Theodor W. Adorno: Zur Krisis der Literaturkritik. [1952/1953] In: T. W. A.: Noten zur Litera-
tur. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S.Â
661 â 664, hier S.Â
661 u.Â
663. Zu
Adornos Thesen vgl. Albrecht: Literaturkritik (Anm. 29), S. 86; Lorenz: Pro domo (Anm. 28),
S. 403 f.
93 So der Titel eines einschlÀgigen Artikels von Peter Schneider: Die MÀngel der gegenwÀrtigen
Literaturkritik. In: Neue deutsche Hefte 12 (1965), H.Â
107, S.Â
98 â 123. Dazu auch Albrecht: Lite-
raturkritik (Anm. 29), S. 90 f.
âich kann mich damit schwer abfindenâ: Kritik der Kritik als
Werkpolitik48
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471