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Rundfunkessays 103Â
â nicht primĂ€r aus deren âfadenscheinig gewordene[m] Kunst-
werk-Begriffâ,104 sondern sie erweist sich als Problem mangelnder SensibilitĂ€t
fĂŒr die genuin literarische Funktion und Faktur eines Textes. Ein gemeinsamer
Gegner hat in der bewegten Zeit der 1960er Jahre keineswegs einen Schulter-
schluss der jungen Autoren zur Folge, ganz im Gegenteil.105
Die hier nur in AnsÀtzen skizzierten publizistischen KÀmpfe um Aufgaben und
Verfahrensweisen von Literatur und Literaturkritik wurden nicht einfach entlang
klar definierter FrontenÂ
â hier Schriftsteller, dort KritikerÂ
â gefĂŒhrt.106 Vielmehr ver-
suchten sich die Protagonisten der ideologisch heterogenen Fraktion der âKritiker
der KritikâÂ
â im Sinne einer Konkurrenz innerhalb der âhĂ€retischenâ Opposition 107Â
â
auch und im Besonderen voneinander abzugrenzen, um die LegitimitÀt der je eige-
nen Position zu unterstreichen. GrundsÀtzlich verwandte Ambitionen bedeuteten
keineswegs ein kooperatives und geschlossenes Projekt einer neuen Generation
von Autoren, sondern fĂŒhrten in der gesellschaftlich-kulturellen Umbruchsitua-
tion der zweiten HĂ€lfte der 1960er Jahre vielmehr zu komplexen ideologischen
Verscherungen und erbitterten GrabenkĂ€mpfen â mit wechselnden Allianzen
und teils von verschiedenen Seiten vereinnahmten theoretischen GewÀhrsleuten.
1968 veröffentlichte Peter Hamm im Hanser Verlag eine Anthologie zur Lage
der Literaturkritik in Deutschland und stellte bereits in seiner âVorbemerkungâ
ein verbreitetes âMiĂtrauen gegen Kritik und Kritikerâ fest, das sich ganz grund-
sĂ€tzlich gegen deren âAnspruchâ richte, âUrteile anzugebenâ.108 Diese Situation
103 Peter Handke: âBĂŒchereckeâ vom 21. 12. 1964. In: P. H.: Tage und Werke (Anm. 31), S. 189 â 197,
hier S. 190. Dazu auch Kap. III, Abschnitt âLiteraturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vor-
arbeiten im Radioâ.
104 Boehlich: Autodafé (Anm. 100), [unpag.].
105 Vgl. dazu auch Delius: Als die BĂŒcher noch geholfen haben (Anm. 78), S. 85; Lorenz: Die
Ăffentlichkeit der Literatur (Anm. 26), S. 51. Zu den diesbezĂŒglichen Diskussionen und ideo-
logischen Differenzen vgl. etwa das folgende, 1969 aufgezeichnete Interview: Hartmut Sander/
Horst Tomayer: Subversive Dialoge. Peter Handke ĂŒber Berliner Subkultur. In: Abend-Zeitung,
1. 8. 1969.
106 Dabei ist zu bemerken, dass auch die Riege der Kritiker keineswegs eine in sich homogene Clique
darstellte, was nicht zuletzt mit unterschiedlichen âGenerationenâ zu tun hatte. Das UngenĂŒgen
an der Literaturkritik hatte sich Anfang der 1960er Jahre noch vorrangig an konservativen Alt-
Kritikern wie Friedrich Sieburg (1893 â 1964) entzĂŒndetÂ
â wofĂŒr die âGartenzwerg-AffĂ€reâ als anek-
dotische Verdichtung gelten kann (vgl. Pfohlmann: Literaturkritik in der Bundesrepublik [Anm.Â
81],
S.Â
161 f.). Die Angriffe von Handke und anderen jungen Intellektuellen richteten sich bereits gegen
eine neue, im Kontext der Gruppe 47 zu Macht und Einfluss gekommene Generation, von der nur
Hans Mayer (*1907) ein Geburtsdatum vor 1920 aufwies: Marcel Reich-Ranicki (*1920), Walter
Höllerer (*1923), Walter Jens (*1923), Joachim Kaiser (*1928), Reinhard Baumgart (*1929).
107 Vgl. zum kultursoziologischen Begriff der âHĂ€resieâ Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm.Â
6),
S. 322.
108 Peter Hamm: âKritik muĂ seinâ. Vorbemerkung. In: KritikÂ
â von wemÂ
/ fĂŒr wenÂ
/ wie (Anm.Â
65),
S.Â
7 â 10, hier S.Â
7 f. Der Umschlag des Bandes zeigt eine Karikatur des Kritikers als HundÂ
â ein
Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 51
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471