Seite - 64 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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einer âKritik der Kritikâ. Legionen von Autorinnen und Autoren haben sich ihr
auf die eine oder andere Weise und mit wechselnder Vehemenz angeschlossen.
Thomas Bernhard und Peter Handke sind nicht nur in konkreten Einzel-
fÀllen als AnwÀlte und Verteidiger ihrer Veröffentlichungen aufgetreten, sondern
haben darĂŒber hinaus grundlegende EinwĂ€nde gegen das âHandwerkâ der Kriti-
kerzunft im Allgemeinen artikuliert. Wiederholt beklagten die beiden Autoren
die uninspirierte und unsensible Rezeption ihrer BĂŒcher im deutschsprachigen
Feuilleton: âSchauen Sie sich die Leute an, die drĂŒber schreibenâ, rĂ€t Bernhard
1986 dem Journalisten Werner Wögerbauer, um dann aus seiner Antipathie
keinen Hehl zu machen und ein physiognomisches Zerrbild der âprimitive[n]â
Kritiker zu entwerfen:
Das sind nur ordinĂ€re, primitive Kasperln, geschmacklose auĂerdem, die keine
Ahnung von dem haben, was sie beschreiben und lesen. Keine Ahnung, mit was sie
eigentlich umgehen. Wennâs heiĂ wird, ziehn sâ den Rock aus, sitzen mit dicken BĂ€u-
chen und HosentrÀgern verschwitzt da, sind ganz vulgÀr, saufen eine Flasche nach der
andern, net, verbrĂŒdern sich mit Krethi und Plethi. Das ist eine ĂŒble Meute. Wurscht,
wie sie heiĂen. (TBW 22.2, 293)4
Zwei Jahre zuvor hatte Bernhard die biedere Existenz literarischer Autoren in
Ă€hnlichem Duktus mit den Mitteln der Satire gezeichnet: âEs wird doch fast
nur wertloses Zeug gâschrieben, von Leuten, die irgendwo in einer Gemeinde-
wohnung sitzen, eine Rente haben, und da stehen die Hauspatschen, und dann
haben sie ZettelkĂ€sten, und dann machen sie halt BĂŒcher, so wie NĂ€herinnen
nĂ€hen.â (TBW 22.2, 268 f.) Dieses Bild lieĂ er kurz darauf seinen Protagonisten
Reger, den er durchaus gerne als Sprachrohr eigener Agenden in Anspruch nahm,
in Alte Meister (1985) in leichter Variation wiederholen: âSie sitzen in Wiener
4 Die Passage findet sich auch in Kurt Hofmann: Aus GesprÀchen mit Thomas Bernhard. Wien:
Löcker 1988, S.Â
99 f. Bernhards Beschreibung des dickbÀuchigen und trinkfreudigen Kritikertypus
korrespondiert mit Goethes berĂŒhmtem Spott-Gedicht auf die Rezensenten von 1774, in dem das
lyrische Ich einen âKerl zu Gastâ hat, der sich zunĂ€chst âsattâ frisst, um anschlieĂend â[ĂŒ]ber
mein Essen zu raisonnierenâ: âDie Supp hĂ€tt können gewĂŒrzter sein, / Der Braten brauner, firner
der Wein. / Der tausend Sackerment! / Schlagt ihn tot den Hund! Es ist ein Rezensent.â (Johann
Wolfgang Goethe: [Da hatt ich einen Kerl zu Gast]. In: J. W. G.: SĂ€mt
liche Werke nach Epochen
seines Schaffens. MĂŒnchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter in Zusammenarb. mit Herbert G. Göpfert
u. a. Bd.Â
1.1: Der junge Goethe. 1757 â 1775. Hg. v. Gerhard Sauder. MĂŒnchen: Hanser 1985, S.Â
223 â 224,
hier S.Â
223 f.) Zu Goethes Gedicht vgl. auch Kap.Â
IV, Abschnitt âSchnĂŒffeln und VerreiĂenâ.Â
â Auf
die wiederholte Denunziation âkörperfixierter Dumpfheitâ (im Gegensatz zur âgenialische[n] Ein-
samkeitâ des Schriftstellers) in Bernhards Werk hat Franz M. Eybl: âWenn das Werk lacht, weint
der Dichterâ. Thomas Bernhards poetologische Maskeraden. In: Dichterdarsteller. Fallstudien zur
biographischen Legende des Autors im 20. und 21. Jahrhundert. Hg. v. Robert Leucht u. Magnus
Wieland. Göttingen: Wallstein 2016, S.Â
157 â 174, hier S.Â
162, hingewiesen.
Unfreundliche Betrachtungen: EinwÀnde gegen die
Literaturkritik64
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471