Seite - 74 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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in der Neuen Zürcher Zeitung angekündigt gewesen war“, zu lesen (TBW 13, 259).
Gemeinsam mit Paul Wittgenstein und einer weiteren Freundin begibt sich der
Erzähler in der Folge, ausgehend vom Ohlsdorfer Vierkanthof des Autors, auf
einen Road-Trip durch das Alpenvorland, zunächst in die knapp 80 Kilometer
entfernte „sogenannte weltberühmte Festspielstadt“ Salzburg, sodann ins deut-
sche Bad Reichenhall und zurück ins oberösterreichische Bad Hall, schließlich
nach Steyr und Wels. Nirgends ist das Schweizer Blatt erhältlich, der Zeitungs-
kauf scheitert bei allen Anläufen: „Wenn wir nicht total erschöpft gewesen wären,
wären wir sicher auch noch nach Linz und nach Passau, vielleicht auch noch
nach Regensburg und nach München gefahren, und schließlich hätte es uns auch
nichts ausgemacht, die Neue Zürcher Zeitung ganz einfach in Zürich zu kaufen,
denn in Zürich, so denke ich, hätten wir sie mit Sicherheit bekommen.“ (TBW
13, 259 f.) Während der Erzähler der Überzeugung ist, die österreichischen Zei-
tungen seien im Grunde „überhaupt keine Zeitungen“, sondern „nur tagtäglich
millionenfach erscheinende unbrauchbare Klosettpapiere“ (TBW 13, 291),39 hält
er die Neue Zürcher Zeitung als Medium bürgerlicher Kultur und feuilletonis-
tischer Dignität in Ehren, zumal sie für ihn einen Gegenpol zum provinziellen
Österreich und zur hiesigen ernüchternden Presselandschaft repräsentiert:
[A]n der Tatsache, daß wir in so vielen angeblich so wichtigen Orten die Neue Zürcher
Zeitung nicht bekommen haben, selbst in Salzburg nicht, entzündete sich unser aller
Zorn gegen dieses rückständige, bornierte, hinterwäldlerische, gleichzeitig geradezu
abstoßend größenwahnsinnige Land. Wir sollten uns nur immer da aufhalten, wo wir
wenigstens die Neue Zürcher Zeitung bekommen, sagte ich und der Paul war absolut
meiner Meinung. (TBW 13, 261)40
39 Vgl. dazu Bernhards Bemerkung im Interview mit Krista Fleischmann von 1986: „Aber bei
zwanzigtausend Romanen im Jahr und fünf Millionen Gedichten ist ja abzusehen, was das für
einen Sinn hat. Für die Papierfabriken, weil die mit den Klorollen ja nicht ausgelastet sind,
also müssen auch Bücher gedruckt werden. Das wäre ja überhaupt eine angenehme Vorstel-
lung von Literatur, daß man das einfach runterreißt und liest und sofort hineinschmeißt. Das
Furchtbare ist ja dann, daß die Leute die Bücher in [sic] die Wand stellen und daß das dann
Jahrzehnte herumsteht und nur stinkt.“ (TBW 22.2, 311) Auch in anderen Zusammenhängen
hat Bernhard Gedrucktes mit Toilettenpapier verglichen, so etwa Anfang 1986 in seiner brief-
lichen Philippika gegen Marianne Fritz’ bei Suhrkamp publizierten Monumentalroman Dessen
Sprache du nicht verstehst: „Hätten Sie doch anstatt den Unsinn von Frau Fritz, nur eine drei-
tausend Blätter lange Klopapierrolle gedruckt und unter dem Suhrkampsignet herausgegeben,
Sie wären auch damit ins Buch der Rekorde gekommen.“ (Bernhard an Unseld, 19. 1. 1986. In:
Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel [Anm. 11], S. 744)
40 Vgl. die folgende Stelle in Beton: „Wenn ich die ekelhaften Zeitungen, die bei uns erscheinen,
die gar keine Zeitungen sind, nur Schmutzblätter, die von geldgierigen Emporkömmlingen
heraus gegeben werden, nicht mehr lesen muß, wenn ich das, was mich hier umgibt, nicht mehr
sehen muß! sagte ich mir.“ (TBW 5, 93)
Unfreundliche Betrachtungen: Einwände gegen die
Literaturkritik74
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471