Seite - 75 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Zwar habe er, so der ErzĂ€hler, den Aufsatz âbis heuteâ nicht gelesen und ânatur-
gemÀà ohne diesen Aufsatz ĂŒberlebtâ: âAber im Augenblick hatte ich geglaubt,
ihn haben zu mĂŒssen.â (TBW 13, 261) Die mit feinem Humor geschilderte Epi-
sode verweist beispielhaft auf BernhardsÂ
â trotz einschlĂ€giger Invektiven gegen
das (österreichische) PressewesenÂ
â lebenslange Faszination fĂŒr das Medium der
Zeitung: ein Medium, das ihm immer wieder als zentraler Aktionsort seiner pole-
mischen âĂffentlichkeitsarbeitâ41 dienen sollte. Bernhards vielschichtige Werkpoli-
tik ist kaum ohne diesen Aspekt, ohne die Kollaboration nicht nur verschiedener
Genres und Textsorten, sondern auch verschiedener medialer KanÀle zu denken.
In einer Passage von Der Atem (1978), die seinen Aufenthalt in einem Lungen-
sanatorium in GroĂgmain schildert, hat Bernhard die Ambivalenz von Lust und
Abscheu als âlebenslĂ€nglichen Mechanismusâ beschrieben:
Auch hatte ich mit der Zeit wieder Lust bekommen, Zeitungen zu lesen, wenngleich ich
von dieser LektĂŒre immer gleich abgestoĂen gewesen war, was aber nicht verhindern
hatte können, daĂ ich schlieĂlich wieder jeden Tag von neuem in ihnen gelesen habe,
schon damals war ich ganz und gar diesem alltÀglich sich wiederholenden, jetzt, wie
ich weiĂ, lebenslĂ€nglichen Mechanismus verfallen gewesen, Zeitungen zu besorgen
und zu lesen und von ihnen immer abgestoĂen zu sein. (TBW 10, 299)
Diese Ambivalenz, das SpannungsverhÀltnis zwischen nachgerade fanatischem
Interesse und tiefsitzender Aversion, hat Bernhard auch literarisch fruchtbar
gemacht: sei es in der Figur des Immanuel Kant im gleichnamigen, 1978 urauf-
gefĂŒhrten StĂŒckÂ
â âZeitlebens bin ich gegen die ZeitungenÂ
/ zeitlebens habe ich
sie in mich hineingefressenâ (TBW 17, 109)Â
â, im ErzĂ€hler von HolzfĂ€llen (1984),
den die ZeitungslektĂŒre im Kaffeehaus zwar zunĂ€chst beruhigt, der sich âvon
diesen schamlosen BlĂ€tternâ aber wenig spĂ€ter âangewidertâ zeigt (TBW 7, 66),
oder im alten Misanthropen Herrenstein, der sich in Elisabeth II. (1987) ĂŒber die
Wiener Tageszeitung Die Presse echauffiert, um sogleich, wie dies fĂŒr Bernhards
Protagonisten nicht unĂŒblich ist, vom Einzelfall seines eigenen MissvergnĂŒgens
an der Presse auf die Gesamtheit aller Leserinnen und Leser sowie aller Zeitun-
gen zu schlieĂen:
Das ist es ja
das mich Àrgert
ein so fĂŒrchterliches Blatt
und ich lese es tÀglich
so geht es doch allen Leuten
41 Vgl. Michael Billenkamp: Thomas Bernhard. Narrativik und poetologische Praxis. Heidelberg:
Winter 2008, S. 20. Vom Zeitungswahnsinn bedroht 75
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471