Seite - 77 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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âWie schon so oft sagte er sichâ, heiĂt es vom Protagonisten der ErzĂ€hlung
Nachmittag eines Schriftstellers, der mit seinem Autor viele charakterliche ZĂŒge
und biographische Details teilt, âdaĂ er mit dem Zeitungskauf nun seinen ersten
Fehler beging, und nahm sich vor, das Ganze nur durchzublÀttern, möglichst
noch im Gehen, und dann in einen Papierkorb zu steckenâ. Denn: âSchon der
Anblick der Schlagzeilen machte ihn kurz sprechunfÀhig; zu dem Gruà des Ver-
kĂ€ufers gelang ihm gerade noch ein Nicken.â 47 Seine BefĂŒrchtungen, die sich an
den umgehend bereuten Erwerb einer Tageszeitung knĂŒpfen, bewahrheiten sich
wenig spĂ€ter: âMit dem ersten Satz, den er las, hörte in ihm sofort jede Art von
Denken auf. Er pflegte sich selber einzureden, er sei zur ZeitungslektĂŒre ver-
pflichtet, um informiert zu sein.Â
[âŠ] In Wahrheit jedoch war sein BlĂ€ttern in den
Zeitungen eine Sucht.â 48 Das EingestĂ€ndnis, einer âZeitungssuchtâ zu unterlie-
gen, veranlasst den Schriftsteller auf seinem FuĂmarsch durch die Stadt Salzburg
schlieĂlich zu dem âGelöbnisâ, bis zum Abschluss seiner âjetzigen Arbeit [âŠ]
keine Zeitung mehr auf[zu]schlagenâ 49Â
â ist er doch der Ăberzeugung, dass âdie
Möglichkeit, neu anzufangenâ,50 ein radikales Abstandnehmen von der Sprache
des Journalismus, eine Form der Enthaltsamkeit gewissermaĂen, voraussetzt:
âEs war, als habe er durch das Zeitungslesen den Gesichtskreis verloren; schon
die Kante des Nachbartisches ergab keine Linie mehr.â 51 Die ErlĂ€uterung des
eigenen Schreibens wird hier und auch an anderen Stellen in Handkes Ćuvre,
zumal in den metafiktionalen Reflexionstexten und in den JournalbÀnden, mit der
Benennung der WiderstĂ€nde und âFeindeâ dieses Schreibens verknĂŒpft. Handkes
Poetik gewinnt ihre Konturen nicht zuletzt aus einer distinktiven Setzung: âDie
geschriebene, gedichtete Sprache erhÀlt die Sprache. Die journalistische Sprache
erhĂ€lt die eigene Sprache nicht.â 52
âNachher ZeitungslektĂŒreâ, notiert Handke unter dem Datum 24.Â
Oktober 1976
im Band Das Gewicht der Welt, âund dabei die Empfindung, all die SĂ€tze da auf
seinen Hauptfiguren â zu einem in metaphorischem und geographischem Sinn an âRĂ€ndernâ
lebenden Dichter, der sich dem Medienrummel, der Betriebsamkeit westlicher Zivilisation, der
Tagespolitik und vielen modernen Lebensformen bewusst verweigertÂ
[âŠ].â Zu diesem Motiv-
Komplex vgl. auch den einschlÀgigen Sammelband: Peter Handke. Poesie der RÀnder. Hg. v.
Klaus Amann, Fabjan Hafner u. Karl Wagner. Wien u. a.: Böhlau 2006.
47 Handke: Nachmittag eines Schriftstellers (Anm. 31), S. 28 f.
48 Ebd., S. 33. Wagner: Handkes âDer Roman des Lesensâ (Anm. 22), S. 177, spricht in diesem
Zusammenhang von der âHartnĂ€ckigkeit des Lastersâ, das dazu fĂŒhre, dass sich der Autor und
seine Protagonisten immer wieder dem Medium Zeitung aussetzen (um dies kurz darauf ein
ums andere Mal zu bereuen).
49 Handke: Nachmittag eines Schriftstellers (Anm. 31), S. 49.
50 Ebd., S. 48.
51 Ebd., S. 38.
52 ⊠und machte mich auf, meinen Namen zu suchen. Peter Handke im GesprÀch mit Michael
Kerbler. Klagenfurt: Wieser 2007, S. 20. Vom Zeitungswahnsinn bedroht 77
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471