Seite - 78 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 78 -
Text der Seite - 78 -
dem Papier seien so entstanden, wie durch das Hineinhauchen von Besoffenen
in den Testsack sich dieser dunkel fĂ€rbt.â 53 Und kurz darauf, im Besonderen auf
die Akteure des journalistischen Betriebs gemĂŒnzt: âDem Journalisten zuhö-
ren: als wĂŒrde einem das LebensgefĂŒhl ganz und gar durch seine Rede entzogen,
bis zur völligen Wesenlosigkeit, gerade dadurch, daà er die ganze Zeit dieses
LebensgefĂŒhl im Mund fĂŒhrtâ.54 Als wirke dessen Sprache kontagiös, als stelle
sie ein ansteckendes Ăbel dar, formuliert Handke hier nicht nur eine Kritik an
den Schreibweisen des Journalismus, sondern deutet darĂŒber hinaus den ver-
heerenden Effekt der inkriminierten âRedeâ auf seine eigene Existenz als Autor,
auf seine dezidiert âdichterischeâ Sprache an; âimmer hĂ€ufiger die Ideeâ, heiĂt
es in Das Gewicht der Welt weiter, âdaĂ die Nachrichtenwelt [âŠ] einem das
BewuĂtsein vom eigenen Leben nimmtâ.55
Auch das in den 1980er Jahren entstandene Journal Am Felsfenster morgens,
das die Entstehung der Wiederholung (1986) und anderer Texte begleitet und
kommentiert, durchziehen Beobachtungen, die nicht nur Handkes âVerachtung
des Zeitungslesensâ 56 dokumentieren, sondern auch von einem grundlegenden
GefĂŒhl der Bedrohung der eigenen schriftstellerischen Praxis durch die Sprache
der Zeitungen handeln. Die Notate, die sich nachgerade leitmotivisch durch den
gesamten Band ziehen, können hier lediglich in einer knappen Auswahl wieder-
gegeben werden: âSchrumpfherz vom Zeitunglesen: welker, schwerer, blutleerer
Beutelâ 57Â
â âIch wiederhole: Die Zeitungen nehmen mir Ernst und Schauen; sie
nehmen mir, mit all den âernsterenâ Nachrichten, den ersten Blick (seit 1 Woche
habe ich keine Zeitung gelesen)â 58Â
â âDurch die BeschĂ€ftigung mit dem Bekannten
(Zeitung) versÀume ich das Benennbare; ich kann, im und nach dem Zeitung-
lesen, nicht mehr benennenâ 59 â âBeim Zeitunglesen entfĂ€llt mir, augenblicks,
alles, worĂŒber ich mich gerade noch gefreut habeâ.60
Im Zentrum von Handkes Notaten steht die Beobachtung, durch die For-
melhaftigkeit der Pressesprache in seiner Profession als Autor behindert und
geschwÀcht zu werden. Es handelt sich dabei um ein PhÀnomen, das er auch
an anderen Schriftstellern, an Konkurrenten im literarischen Feld feststellen
53 Peter Handke: Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975Â â MĂ€rz 1977). Salzburg:
Residenz 1977, S. 264.
54 Ebd., S. 279.
55 Ebd., S. 291. Vgl. dazu auch Peter Handke/Peter Hamm: Es leben die Illusionen. GesprÀche
in Chaville und anderswo. Göttingen: Wallstein 22008, S. 68: âDas vermeide ich seit zwanzig
Jahren; vor dem Ans-Schreiben-Gehen Zeitung zu lesen.â
56 Wagner: Handke als Leser (Anm. 22), S. 144.
57 Handke: Am Felsfenster morgens (Anm. 15), S. 47.
58 Ebd., S. 100.
59 Ebd., S. 117.
60 Ebd., S. 143.
Unfreundliche Betrachtungen: EinwÀnde gegen die
Literaturkritik78
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471