Seite - 80 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Spiegelreporter als Schriftsteller auftrittâ,64 ebenso wie Eva Menasse. Von sei-
nem Biographen Malte Herwig auf die Autorin und Journalistin Menasse ange-
sprochen, zeigte sich Handke 2009 jedenfalls wenig begeistert: âDie hat vor ein
paar Jahren so ein Buch ĂŒber den Vater geschriebenâÂ
â gemeint ist der Roman
Vienna (2005), einer der stilprÀgenden Familienromane des 21. Jahrhunderts.
âDas fing so an: âMein Vater war eine Sturzgeburt.â Da habe ich gedacht, das
sind so richtige ZeitungssĂ€tze.â 65 Im selben Jahr hat Handke seinem Vorbehalt
in einem GesprÀch mit Klaus Kastberger und Elisabeth Schwagerle ein weiteres
Mal Ausdruck verliehen:
Die meisten Autoren schreiben inzwischen wie Journalisten. Schon beim ersten Satz
denkt man, das könnte auch in der Zeitung stehen, und so geht das dann weiter. FĂŒr
mich ist Schreiben Forschung, dabei weiĂ ich nicht, wo man hinkommt. Und was
man weiĂ, vergisst man. Naja, das ist fĂŒr mich ein groĂes Problem, viele Autoren
heute zu lesen. Es ist schon im Voraus alles klar, die Konstruktion ist klar, die SĂ€tze
sind kurz geworden, das ist sehr seltsam. Ich kann keine kurzen SĂ€tze lesen, das ist
so eine Krankheit von mir, scheintâs.66
Die entsprechende Kritik trifft mitunter auch Autoren, die er auĂerordentlich
schÀtzt, etwa Tolstoi, der in Krieg und Frieden, so Handke in einem GesprÀch aus
dem Jahr 2009, zwischenzeitlich zum âZeitungsschreiberâ mutiere.67 Wer sich im
literarischen Schreiben an den Duktus des Journalismus annÀhere, korrumpiere
64 Peter Handke: Aber ich lebe nur von den ZwischenrĂ€umen. Ein GesprĂ€ch, gefĂŒhrt von Herbert
Gamper. ZĂŒrich: Ammann 1987, S. 93.
65 Malte Herwig: Meister der DĂ€mmerung. Peter Handke. Eine Biographie. MĂŒnchen: DVA 22010,
S. 300. â Es handelt sich dabei tatsĂ€chlich um den ersten Satz von Menasses Roman; siehe Eva
Menasse: Vienna. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, S. 9. Dazu ausfĂŒhrlicher Harald
Gschwandtner: âFontane hat das vielleicht noch gekonntâ. Familiennarrativ und Gattungs-
polemik bei Peter Handke. In: Familie und IdentitÀt in der Gegenwartsliteratur. Hg. v. Goran
LovriÄ u. Marijana JeleÄ. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 2016, S. 199 â 218. Zu Menasses Roman hat
sich Handke bereits 2008 in einem Interview abschĂ€tzig geĂ€uĂert. Vgl. Christine Eichel: âDer
Zorn verraucht, das Feuer bleibt.â [GesprĂ€ch mit Peter Handke.] In: Cicero online, Februar
2008, http://www.cicero.de//der-zorn-verraucht-das-feuer-bleibt/38460 (Stand 20. 12. 2015).
66 Klaus Kastberger/Elisabeth Schwagerle: âEs gibt die Schrift, es gibt das Schreiben.â Peter Handke
im GesprĂ€ch. In: Peter Handke. Freiheit des Schreibens â Ordnung der Schrift. Hg. v. Klaus
Kastberger. Unter Mitarb. v. Clemens Ăzelt. Wien: Zsolnay 2009, S.Â
11 â 30, hier S.Â
13. Vgl. auch
seine ĂuĂerung in Ulrich Weinzierl: âSerbien soll Weltmeister werdenâ. [GesprĂ€ch mit Peter
Handke.] In: Welt am Sonntag, Nr. 24, 13. 6. 2010, S. 68: âDie Schriftsteller werden wie alle,
wie Journalisten.â
67 Ulrich von BĂŒlow: âWait and see!â Peter Handke im GesprĂ€ch. In: Das stehende Jetzt. Die Notiz-
bĂŒcher von Peter Handke. GesprĂ€ch mit dem Autor und Essays von U. v. B. Marbach a. N.:
Deutsche Schillergesellschaft 2018, S. 5 â 63, hier S. 34.
Unfreundliche Betrachtungen: EinwÀnde gegen die
Literaturkritik80
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471