Seite - 98 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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scheint Handkes Vorbehalte gegen literaturhistorische Vergleiche, das „Elend
des Vergleichens“,132 durchaus zu teilen. Nachdem er schließlich den letzten Satz
Hartungs („Immer steht dieses Erzählen Bernhards in der Gefahr, von diesem
grundlosen Grund verschlungen zu werden oder ihm nicht mehr entringen [sic]
zu können“) mit mehreren horizontalen Strichen und einer Wellenlinie markiert
hat, was wohl als Hinweis auf eine gewisse Irritation zu verstehen ist, setzt er an
das Ende des Manuskripts: „Jetzt habe ich Angst, ich kann nichts dafür
… Kein
Wort mehr …“ 133 Die Ablehnung weiterer Diskussionen fand in Bernhards Wei-
gerung, gemeinsam mit den beiden Kritikern und Rolf Dieter Brinkmann auf
der Bühne Platz zu nehmen, ihre Fortsetzung.134 Seine eingehende, das Typo-
skript energisch mit Kugelschreiber bearbeitende ‚Kritik der Kritik‘ war kein
Angebot für einen darauf folgenden Austausch, sondern im Grunde, ganz im
Stile Bernhards, ein apodiktisches Schlusswort.
In einem Brief an Rudolf Hartung versuchte Elias Canetti kurz darauf, den
mit ihm in freundschaftlichem Einvernehmen stehenden Kritiker zu beruhigen:
„Das Verhalten Bernhards“ sei, so der Brief vom 20. Dezember 1968, „leider
charakteristisch für ihn. Ich kenne ihn ganz gut, er verträgt überhaupt keine
Kritik.“ 135 Canetti mutmaßt in weiterer Folge, Bernhard sei womöglich durch
„die Anwesenheit des R.-R. irritiert gewesen“, zumal es sich bei diesem um einen
„geistig […] schwer erträgliche[n] Menschen[en]“ und „ahnungslose[n] Schul-
meister“ handle, um Hartung am Ende für das erlittene Unrecht zu bedauern
und ihn von aller Schuld an dem Konflikt freizusprechen:
Aber Ihre Sätze über Bernhard, die Sie im Brief zitiert haben, sind maßvoll, treffend
und wahr, und er weiß es. Ich glaube, es muss ihre Wahrheit sein, die ihn so getroffen
hat. Er gerät dann gleich in Panik und reagiert wie in Todesgefahr. Mir hat es schreck-
lich leid getan, dass Sie das erleben mussten, denn welcher Kritiker wäre gerechter
und gewissenhafter als Sie.136
132 Peter Handke: Verdrängt das Kino das Theater? Das Elend des Vergleichens. In: protokolle
(1969), S.
228 – 236; erneut gedruckt in P. H.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (Anm.
61),
S. 65 – 77.
133 Hartung: Thomas Bernhard (Anm. 124), S. 19/32.
134 Dafür war wohl nicht zuletzt der kurz zuvor erschienene Verriss Reich-Ranickis über Ungenach
in der ZEIT verantwortlich. Vgl. dazu Fellinger: „Ich bin kein Teppichknüpfer“ (Anm. 120),
S. 38.
135 Elias Canetti an Rudolf Hartung, 20. 12. 1968. In: Elias Canetti: Ich erwarte von Ihnen viel. Briefe
1932 – 1994. Hg. v. Sven Hanuschek u. Kristian Wachinger. München: Hanser 2018, S. 315.
136 Ebd. Zum spannungsreichen Verhältnis zwischen Canetti und Reich-Ranicki vgl. Sven
Hanuschek: Elias Canetti. Biographie. München, Wien: Hanser 2005, S.
541 f. u.
679 f. Als Reich-
Ranicki Canettis autobiographische Bände Die gerettete Zunge (1977) und Die Fackel im Ohr
(1980) kritisch besprach, verhöhnte ihn der Autor in mehreren Briefen als „noch beschränkter,
Unfreundliche Betrachtungen: Einwände gegen die
Literaturkritik98
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471