Seite - 107 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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künstlerischen Herausforderungen des Autors Bernhard – der im Laufe seiner
Karriere nicht selten den Autor Bernhard gespielt hat 172 – vor Augen.
Der Erzähler des 1967 veröffentlichten Prosatextes Ist es eine Komödie? Ist es eine
Tragödie?, der kurz darauf von einem melancholischen cross dresser angesprochen
wird, disponiert die einleitenden Abschnitte einer großen „Studie über das Theater“
(TBW 14, 35) nach dem folgenden Schema: „Erster Abschnitt DIE SCHAUSPIELER,
zweiter Abschnitt DIE SCHAUSPIELER IN DEN SCHAUSPIELERN, dritter
Abschnitt DIE SCHAUSPIELER IN DEN SCHAUSPIELERN DER SCHAUSPIELER
usf.“ (TBW 14, 36) Diese Staffelung, die zugleich den Fokus auf den Moment des
Spiels in der Erfüllung der eigenen sozialen Rolle legt, ist für Bernhards Konzep-
tion von Autorschaft und Künstlertum von zentraler Bedeutung. Sie kehrt im Titel
des Theaterstücks Ritter, Dene, Voss (1984) ebenso wieder wie im fortgesetzten
Vexierspiel zwischen Autor- und Figurenrede in den Prosatexten der 1980er Jahre:
ein Spiel, das sich immer wieder aufs Neue um Identität und Nicht-Identität, um
den Gegensatz von literarischer Rolle und ‚authentischem‘ Sprechen dreht.173 Der
Schauspieler Minetti wird in diesem Zusammenhang, gerade beim Lesen der ihn
betreffenden und taxierenden Kritiken auf der Bühne, zu einer über den Einzelfall
hinausweisenden Reflexionsfigur für Probleme künstlerischer Selbstbehauptung
und künstlerischen Selbstbewusstseins. Ein, wie Bernhard 1975 in Bezug auf den
Schauspieler Minetti doppelsinnig formuliert hat, „uns tatsächlich auf die Nerven
gehende[r] Künstler“ zu sein (TBW 22.1, 642), kann mit gutem Recht ebenso als
Anspruch und Pensum seiner eigenen Idee von Autorschaft interpretiert werden.174
Auch im sechs Jahre nach Minetti, im Juni 1982, bei den Ludwigsburger Fest-
spielen uraufgeführten Theaterstück Über allen Gipfeln ist Ruh ist der Status,
der der Kritik zugesprochen wird, ein zumindest ambivalenter. „Nicht nur mit
den Kritikern in Deutschland ist es eine fatale Sache / Sie loben und sie ver-
dammen / und sie wissen niemals was sie loben / und was sie verdammen / sie
haben keine Ahnung von ihrem Gegenstand / wie Stieglitz sagt“ (TBW 18, 184),
zitiert der gealterte, längst umfassend konsekrierte Schriftsteller Moritz Meister
die Hauptfigur seiner eben abgeschlossenen Tetralogie. Der Romancier und sein
172 Zur „Kunstfigur“ Bernhards vgl. schon Schmidt-Dengler: Der Übertreibungskünstler (Anm.
113),
S. 94, sowie nun umfassend Clemens Götze: „Die Ursache bin ich selbst!“ Thomas Bernhards
inszenierte Autorschaft am Beispiel seiner (Film-)Interviews. In: Thomas Bernhard. Gesell-
schaftliche und politische Bedeutung der Literatur (Anm.
6), S.
357 – 371. Eine prägnante Refle-
xion über diesen Aspekt findet sich auch in Leonhard Fuest: Kunstwahnsinn irreparabler. Eine
Studie zum Werk Thomas Bernhards. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 2000, S. 303 – 306.
173 Siehe dazu etwa aktuell den erhellenden Aufsatz von Nicolas Pethes: „glauben Sie mir“. Die
Ausweitung der literarischen Kampfzone in Thomas Bernhards Interviews, Briefen, Preisreden
und Feuilletonbeiträgen. In: Text + Kritik (42016), H. 43, S. 126 – 139.
174 Zur selbstreflexiven Dimension von Minetti vgl. auch Heinrici: Maskenwahnsinn (Anm.
167),
S. 131 f. „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne 107
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471