Seite - 108 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Protagonist Stiglitz teilen die Vorbehalte ihres Autors Thomas Bernhard, zwei-
feln wie er an der Kompetenz und am Sachverstand der Rezensenten, zumal, wie
Meister selbstbewusst feststellt, nur wenige Kritiker in der Lage seien, sein Werk
âin seiner KomplexitĂ€t zu verstehenâ.175 Von einer jungen Germanistin, FrĂ€ulein
Waldenfels, auf die EinschĂ€tzungen der âmaĂgeblichen Kritikerâ angesprochen
(TBW 18, 183), zeigt Meister sich gleichwohl âerstauntâ darĂŒber, âdaĂ die Kritiker
tatsĂ€chlich zu solcher Beobachtung fĂ€hig sindâ, hĂ€tten doch âdie meistenâ, so die
Erfahrung des selbstbewussten Autors, âniemals die FĂ€higkeit tiefer in ein Werk
einzudringenâ (TBW 18, 183). Wie in anderen KĂŒnstlertexten Bernhards verrĂ€t
die zumeist abwertende BeschÀftigung mit der Literaturkritik, wie Nina Birkner
ĂŒberzeugend dargelegt hat, auch in Ăber allen Gipfeln ist Ruh indirekt, doch ĂŒber-
deutlich die âAbhĂ€ngigkeit des KĂŒnstlers von dieser Definitionsmachtâ.176 Meister
betont zwar, dass âein schöpferischer KĂŒnstlerâ, âje frĂŒherâ er sich âklarmach[e]â,
dass die Kritiker âkeine Ahnung von ihrem Gegenstandâ hĂ€tten, desto besser mit
deren Urteilen umgehen könne (TBW 18, 184), muss jedoch im weiteren Verlauf
des StĂŒcks eingestehen, wie stark seine Existenz als Autor mit der Aufmerksam-
keit und dem Wohlwollen der Kritiker in Beziehung steht:
TatsÀchlich sind die Zeitungen mein Schicksal
gÀbe es die Zeitung nicht ich existierte gar nicht
das kann wohl jeder Schriftsteller von sich sagen
wenn er ehrlich ist
GĂ€be es kein Feuilleton
es gÀbe gar keine Schriftsteller
Das Feuilleton ist gut sagen sie
wenn sie darin gelobt werden
das Feuilleton ist schlecht
werden sie kritisiert
so einfach ist das (TBW 18, 222)177
175 Birkner: Vom Genius zum MedienÀstheten (Anm. 158), S. 228.
176 Ebd., S. 235.
177 Zur zuletzt zitierten Passage vgl. auch Bernhards eigene ĂuĂerung im âNachtgesprĂ€châ mit
Peter Hamm (hier in Bezug auf die Rezeption seiner frĂŒhen LyrikbĂ€nde): âZum Teil wird so
ein erster Gedichtband nicht wahrgenommen und zum andern, mein Gott, warân halt Kritiken,
und die guten waren halt wunderbar und die schlechten waren halt schlecht, nicht?â (TBW
22.2, 109)Â
â Es handelt sich dabei um einen stehenden Topos in der Reflexion ĂŒber das VerhĂ€lt-
nis von Autor und Kritik. Vgl. dazu bereits die Bemerkungen in Georg LukĂĄcs: Schriftsteller
und Kritiker. [1939] In: G. L.: Schriften zur Literatursoziologie. Hg. v. Heinz Maus u. Friedrich
FĂŒrstenberg. Neuwied, Berlin: Luchterhand 41970, S.Â
198 â 212, hier S.Â
211: âFĂŒr den Schriftsteller
ist im allgemeinen eine âguteâ Kritik jene, die ihn lobt oder seine Nebenbuhler herunterreiĂt;
eine âschlechteâ jene, die ihn tadelt oder seine Nebenbuhler fördert.â
Unfreundliche Betrachtungen: EinwÀnde gegen die
Literaturkritik108
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471