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26) nur zu gut Bescheid. Während Bernhard Minettis problematische Rolle im
Kulturbetrieb des Dritten Reichs in Minetti fast vollständig ausgespart hat (und
auch sonst offenbar nie daran Anstoß nahm 184), findet sich in Einfach kompliziert
doch eine kurze Passage, die diese Dimension zumindest erahnen lässt. Wie bei-
läufig erwähnt die Figur des greisen Schauspielers „Memel Etsch Belt“ (TBW 20,
28) und spielt damit auf die erste, von den Nationalsozialisten vornehmlich ver-
wendete Strophe des Deutschlandlieds an. Die drei Flüsse, die neben der Maas
im Deutschlandlied des August Heinrich Hoffmann von Fallersleben genannt
werden, verweisen in der Lesart des Dritten Reichs auf dessen raumgreifende
Expansions- und Großmachtsphantasien. Bernhard Minetti hatte dem NS-Staat
jahrelang als willfähriger, auf der „Gottbegnadeten-Liste“ des Regimes geführter
Künstler gedient.185
Wichtiger für den vorliegenden Zusammenhang aber sind jene beiden,
zunächst eher unscheinbaren Stellen, an denen auch in Einfach kompliziert
Zeitungen zum Thema werden. Anders als in Minetti scheint sich der gealterte,
mittlerweile 82-jährige Schauspieler nicht mehr mit den Kritiken seiner Auftritte
auseinanderzusetzen; er hat zwar aus Gewohnheit noch eine Zeitung „abonniert“
(TBW 20, 32), studiert dort aber lediglich die „Stellenangebote“ (TBW 20, 29).
Am Ende breitet er, wie es in der Regieanweisung heißt, „ein großes Stück Zei-
tungspapier“ auf dem Tisch aus, um es als Unterlage zum Schneiden von Käse
zu verwenden (TBW 20, 58): Die Abhängigkeit von den Urteilen des Feuilletons,
die den Schauspieler in Minetti an- und umtreibt, die ihn am Leben hält und
184 Auch über Paula Wessely, die im Dritten Reich an zahlreichen NS-Propagandafilmen mitwirkte,
hat Bernhard sich
– ganz anders als Elfriede Jelinek
– stets wertschätzend geäußert (vgl. TBW
22.2, 266 f.). Ein Jahr vor der Uraufführung von Jelineks Burgtheater (1985) nimmt der Erzäh-
ler von Holzfällen (1984), Bernhards Abrechnung mit dem österreichischen Kulturbetrieb, „die
Wessely“ ausdrücklich von seinem „ganz besonderen Haß“ auf die „Burgschauspieler“ aus; er
habe sie vielmehr – ebenso wie Käthe Gold – „zeitlebens innig geliebt“ (TBW 7, 20). – Bruno
Ganz hatte Paula Wessely 1973 als Generalin in der Uraufführung von Die Jagdgesellschaft vor-
geschlagen; Bernhards Schilderung in Wittgensteins Neffe (1982) zufolge kam die Besetzung
nur aufgrund einer Intrige der Burgtheater-Schauspieler gegen Ganz nicht zustande: „In dem
Augenblick, in welchem der Auftritt des Bruno Ganz durch die Gemeinheit seiner Wiener Kolle-
gen unmöglich gemacht worden war, hatte sich auch die Paula Wessely, meine erste und einzige
Generalin, aus dem Projekt zurückgezogen“ (TBW 13, 302). Vgl. dazu ausführlicher TBW 13,
300 – 304, sowie den Kommentar in Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel (Anm.
11), S.
345. Zur
differierenden Beschäftigung Bernhards und Jelineks mit Paula Wessely vgl. Karl Müller: Die
Theaterkonzepte Thomas Bernhards und Elfriede Jelineks im Vergleich. In: Thomas Bernhard
Jahrbuch 2004, S.
91 – 116, hier S.
96, der auch Jelineks „Verwunderung“ über Bernhards unbe-
darften Umgang mit Wessely dokumentiert.
185 Zu Minettis Rolle im NS-Kulturbetrieb vgl. Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich
(Anm. 166), S. 371, sowie Helmut Lethen: Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens,
Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt. Berlin: Rowohlt 2018, S. 39 – 41.
„ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne 111
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471