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aufgeladen, einen wichtigen Angelpunkt der ArgumentationsfĂŒhrung des Aufsat-
zes dar, indem Bernhard durch die Gleichsetzung von Getreide- und TheaterdĂŒrre
den Vorrang der kĂŒnstlerischen Diskussionen gegenĂŒber den agrikulturellen
provokant in Zweifel zieht: â[D]ie Bauern und die sogenannten Landwirte und
die Theaterkritiker und die sogenannten Theaterkritiker zwischen Flensburg und
Bozen haben viel mehr gemeinsam, als sich ein einfacher feuilletonistisch ver-
dorbener und verunstalteter Kopf ausmalen kann oder denken lĂ€Ăt.â (TBW 22.1,
613)188 Dass sowohl die âProdukte der Bauernâ als auch jene der âTheaterkritikerâ
mitunter zu Magenverstimmungen fĂŒhren (TBW 22.1, 611), lasse, so Bernhard,
auf Ăhnlichkeiten in den beiden Feldern schlieĂen. Hier wie dort gehorche die
Rhetorik der âDĂŒrreâ einem KalkĂŒl, das nicht die Verbesserung der QualitĂ€t der
Produkte, sondern den Gewinn der âGetreide- wie der Feuilletonsilobesitzerâ
(TBW 22.1, 613) im Blick habe. Bernhard, der schon 1968 die âagronomische[Â ]
SchlĂ€ueâ seines Verlegers mit âBewunderungâ zur Kenntnis genommen hatte 189
und als seine Berufsbezeichnung wiederholt âLandwirtâ angab,190 wusste, wovon
er sprach.191
Nach etwa einem Drittel des Beitrags fĂ€llt Bernhard ein vorlĂ€ufiges, fĂŒr beide
Bereiche gleichermaĂen vernichtendes Urteil, das in einem etwas zwielichtigen
Binnenreim kulminiert: âDer Ruf nach der Gesundheitspolizei dröhnt uns ja
tatsÀchlich fortwÀhrend in den Ohren, und mit den Vergifteten der Bauern und
der sogenannten Theaterkritiker sind die SpitĂ€ler ĂŒberfĂŒllt. Es ist ganz einfach
und ĂŒberall zwischen Flensburg und Bozen zum Kotzen!â (TBW 22.1, 611 f.) Die
188 Huntemann: Artistik und Rollenspiel (Anm. 10), S. 195, zufolge ist Bernhards Beitrag zur DĂŒrre
dermaĂen âstilisiertâ, dass er als konkreter Diskussionsbeitrag ânicht mehr ernstzunehmenâ sei.
189 Bernhard an Unseld, 22. 7. 1968. In: Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 11), S. 80.
190 Vgl. die Abb. in Hennetmair: Ein Jahr mit Thomas Bernhard (Anm. 145), S. 216. Siehe auch
Unseld: Reisebericht IsraelâIranâĂgypten, 29. April â 12. Mai 1977. In: Bernhard/Unseld: Der
Briefwechsel (Anm. 11), S. 516: âDas Zusammensein mit Thomas Bernhard war ungemein
freundlich. Er nahm auch an Exkursionen teil, aber freilich reichte die Basis seiner Gemein-
samkeitsbereitschaft nicht allzu weit. Er zog sich gerne auf sich zurĂŒck, mit dem Hinweis, daĂ
sein Beruf (in seinem PaĂ steht als Beruf âLandwirtâ) langen kulturellen Exkursionen nicht
standhĂ€lt.â Dazu Janko Ferk: Bauer Bernhard. Beamter Kafka. Dichter und ihre Zivilberufe.
Wien u. a.: Styria premium 2015, S. 115 â 129, bes. S. 126 f., sowie die Erinnerungen von Rudolf
Asamer: In zwanzig Minuten war der Verkauf abgeschlossen. In: Was reden die Leute (Anm.Â
36),
S. 136 â 139.
191 Einige Jahre spÀter wird der Musikphilosoph Reger in Alte Meister (1985) Martin Heidegger als
âurdeutsche[n] PhilosophiewiederkĂ€uerâ, ja als âunablĂ€ssig trĂ€chtige Philosophiekuhâ bezeich-
nen, âdie auf der deutschen Philosophie geweidet und darauf jahrzehntelang ihre koketten Fladen
fallen gelassen hatâ: âHeute ist Heidegger noch immer nicht ganz durchschaut, die Heideggerkuh
ist zwar abgemagert, die Heideggermilch wird aber noch immer gemolkenâ (TBW 8, 56 f.). Die
Herabstimmung der Bedeutung des polemisch attackierten âhohenâ Gegenstands funktioniert
auch hier ĂŒber den Vergleich mit der SphĂ€re des Agronomisch-Ruralen. Der Begriff des âPhilo-
sophiewiederkauer[s]â (TBW 13, 71) wiederum findet sich bereits in Ja (1978).
Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 113
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471