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nur gegen die âBeschreibungsimpotenzâ der Autorinnen und Autoren, sondern
auch gegen die in der Gruppe 47 praktizierte Form der Literaturkritik wendeten.220
Die von Handke fĂŒr das steiermĂ€rkische Regionalradio gestaltete âBĂŒchereckeâ-
Sendung vom 21.Â
Dezember 1964 widmet sich gleich eingangs, noch bevor Cesare
Paveses Roman Der schöne Sommer vorgestellt wird, einer Art von âMetakritikâ.
Nach der Wiedergabe der ersten SĂ€tze des Romans tritt der Rezensent gewisser-
maĂen einen Schritt zurĂŒck und fragt danach, wie denn in der Folge ĂŒber das
vorliegende Buch zu reden sei:
Es stellen sich nun nach der LektĂŒre des Buches sogleich viele Worte zur Wahl. Gedan-
kenlos fallen einem fĂŒr die Sprache des Romans etwa die Worte âklarâ, âanmutigâ, âein-
fachâ, âstrengâ, âsparsamâ und âschlichtâ ein; ebenso automatisch kommen die Worte
fĂŒr die Wiedergabe der erzĂ€hlten Geschichte: Entwicklung, MĂ€dchen, Sommer, Frau,
Liebe, Erfahrung, EnttÀuschung.221
In der zweiten zitierten AufzÀhlung klingt die strukturale ErzÀhltextanalyse
an, wie sie Vladimir Propp in seiner Morphologie des MĂ€rchens (1928) entwor-
fen hat; sie korrespondiert mit Handkes eigenen Arbeiten der 1960er, die, wie
Der Hausierer, die âErzĂ€hlgrammatikâ bestimmter Genres offenzulegen versu-
chen.222 PrimÀr wendet sich die Kritik des jungen Rezensenten aber gegen die
âGedankenlosigkeitâ einer journalistischen Sprache, die auf literarische Texte
mit automatischen Reflexen und nicht mit individueller analytischer Akribie
reagiere: âDarauf kann sich jeder, der dies hörtâ, so Handke in Bezug auf die
genannten Begriffe, âwohl ohne MĂŒhe seinen Reim machen: sowohl weiĂ er,
was geschieht, als auch weiĂ er, wie das Geschehen erzĂ€hlt wird.â 223 Aus dieser
Beobachtung leitet der Autor fundamentale EinwÀnde gegen die zeitgenössi-
sche Literaturkritik ab, wobei nicht unterschlagen werden darf, dass Handke
diese EinwÀnde selbst in einem Sub-Genre der Literaturkritik, der Rundfunk-
rezension, artikuliert:
220 Vgl. Kap.Â
II, Abschnitt ââĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlierenÂ
âŠâ:
Handkes Hornissen nach Princetonâ, sowie Kap.Â
IV, Abschnitt âPrinceton 1966 und die Folgenâ.
221 Peter Handke: âBĂŒchereckeâ vom 21. 12. 1964. In: P. H.: Tage und Werke (Anm. 21), S. 189 â 197,
hier S. 189. Dazu und zum Folgenden vgl. auch Lothar Struck: Der Begleitschreiber. Einige
Bemerkungen zum Kritiker und Leser Peter Handke. In: L. S.: ErzÀhler, Leser, TrÀumer. Begleit-
schreiben zum Werk von Peter Handke. Mit einem Vorwort v. Klaus Kastberger. [Klipphausen]:
Mirabilis 2017, S. 13 â 27, bes. S. 17 â 19.
222 Alexander Honold: Der Erd-ErzÀhler. Peter Handkes Prosa der Orte, RÀume und Landschaf-
ten. Stuttgart: Metzler 2017, S. 19. Vgl. die Charakterisierung seines Romans Der Hausierer in
Peter Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. In: P. H.: Ich bin ein Bewohner des
Elfenbeinturms (Anm. 61), S. 19 â 28, hier S. 28.
223 Handke: âBĂŒchereckeâ vom 21. 12. 1964 (Anm. 221), S. 189.
Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 121
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471