Seite - 122 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Indes sind alle diese Vokabeln so nichtssagend, wie sie gedankenlos sind. Die Literatur-
kritik wertet, für die Bewertung aber besteht in der Sprache nur ein begrenzter Vorrat
von Worten; dieser Vorrat schießt automatisch in die Gedanken, wenn die Sprache
des zu beurteilenden Textes beurteilt werden soll: das ist es, was die Literaturkritik
oft zu einem leeren Geschäft macht. Sowohl die Worte für die Beschreibung einer
Geschichte als auch die Bewertungsworte für die Sprache dieser Geschichte sind mit
der Zeit automatisiert worden; dazu kommt noch, daß für einen Autor je bekannter
er ist, desto mehr Eigenschaftsworte gängig sind, die mechanisch bei der Erwähnung
des Autors in den Sinn kommen.224
Zwar betont Handke, dass das von ihm skizzierte „Übel der Literaturkritik“ ein
„natürliches“ sei und deshalb im Grunde auch nicht als „Übel“ gelten könne;225
gleichwohl bestehe, so der junge Rezensent in seinem ersten literaturkritischen
Radiofeuilleton, ein fundamentaler Missstand im Bereich des Sprechens und
Schreibens über Literatur, der nicht nur das verwendete Vokabular und das ana-
lytische Instrumentarium der Kritiker selbst, sondern das gesamte Kommuni-
kationssystem des Literaturbetriebs betreffe:
[E]s ist die Natur der Kritik, zu bewerten; die Bewertungsworte aber sind von Natur
aus abstrakt, das heißt, sie tragen in sich keinen Begriff von dem, was sie bezeichnen;
sie dienen nur als Hilfsmittel oder als Hinweise; was ihnen trotzdem zu einer Wirkung
verhilft, ist die Gewöhnung des Zuhörers; es geschieht nämlich, daß auf die Nennung
des automatisch gesagten Wortes, etwa die Sprache sei dicht, in dem Zuhörer ebenso
von selber eine Wertvorstellung von dem Kritisierten entsteht. Im eigenen Lesen
wird dann der leere Hinweis, die Sprache sei dicht, sozusagen mit Begreifen gefüllt.226
Handke deutet also an, dass nicht die Wortwahl der Kritiker (es handelt sich
in diesen Jahren fast ausschließlich um Männer) allein zum Automatismus
tendiert; vielmehr ließen aus dem Formelvorrat der Kritik kompilierte Sätze
auch eine standardisierte Vorstellung über den besprochenen Gegenstand bei
den Leserinnen und Lesern der Rezension entstehen. Er sei, so Handke, durch-
aus in der Lage, einen nach dem skizzierten Kritik-Schema gebauten Satz über
Paveses Roman anzufertigen, und er liefert in der Folge die Probe aufs Exempel.
Er beschließt seine programmatischen Überlegungen zur Praxis der Literatur-
kritik jedoch mit der pointierten Ankündigung eines Alternativmodells, die eine
‚andere‘ Literatur kritik in Aussicht stellt:227
224 Ebd., S. 189 f.
225 Ebd., S. 190.
226 Ebd.
227 Vgl. Kap. V, Abschnitt „Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz“.
Unfreundliche Betrachtungen: Einwände gegen die
Literaturkritik122
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471