Seite - 139 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Anklage zunächst auf die Nichtbeachtung zweier für ihn wichtiger Schriftsteller
(Hermann Lenz und Ernst Meister) im Kreis der Gruppe 47 aus, um am Ende
des Absatzes auf den umfassenden Betrug an den Leserinnen und Lesern, den
die Literaturkritik sowie die Ein- und Ausschließungsmechanismen des Litera-
turbetriebs zu verantworten hätten, zu sprechen zu kommen:
Die so oft nostalgisch heraufbeschworene, selige Gruppe 47 schon war vielmehr ein
unseliges Übel, in dem die Literatur beschnitten wurde zu einem Flachding aus Mei-
nung, Trend, Jargon und Sprachpolizei; für immer wird unverzeihlich bleiben, daß
der deutsche Epiker Hermann Lenz und der deutsche Lyriker Ernst Meister – für
mich ebenbürtig der Ingeborg Bachmann und dem Paul Celan – von den Ausschlie-
ßungs- oder Einlaßverwahrungsriten jener sitzriesigen Kleinbürger, aus denen sich
die Gruppe vor allem rekrutierte, um das Gelesenwerden, um jede Antwort, um ihre
Recht betrogen worden sind. Und betrogen sind auch wir, die Leser. Dafür wird es
nie eine Lossprechung geben.312
Es hat den Anschein, als handle es sich bei dem Verhalten der „aus ihren Kummer-
löchern herbeigereisten Feder- und Mikrophonfuchser“, der „selbsternannten
Kunstschöffen“,313 um ein Kapitalverbrechen, für das Vergebung ob der Schwere
des Delikts unmöglich ist. Die Ausrufung eines ‚Wettbewerbs‘ der Literatur
sieht Handke dabei als symptomatischen Beleg einer Fehlentwicklung, die dazu
geführt habe, dass Hierarchisierung und Quantifizierung dem Bekenntnis zur
eingehenden und genauen Lektüre vorgezogen werde.
Nun hebt Handke nach dem ausufernden, nicht eben festlichen ‚Einwen-
den‘ endlich mit dem ‚Hochhalten‘ des an diesem Tag mit dem Petrarca-Preis
bedachten Gustav Januš an, den er schon ein Jahr zuvor als einen der beiden
eingegangen: „In diesem Gespräch sagten Sie ja prinzipiell gar nichts anderes als das, was Sie
an anderer Stelle auch geäußert haben. Darf ich Sie an Ihre Rede anläßlich der Verleihung des
Petrarca-Preises erinnern? Dort […] steht fast wörtlich das gleiche, was Sie mir […] gesagt
haben.“ (Lothar Schmidt-Mühlisch: Rolle rückwärts aus einer hellen, heiteren, scharfen Unter-
haltung. In: Die Welt, 6. 9. 1984)
312 Handke: Einwenden und Hochhalten (Anm.
287), S.
128. Diesen Vorwurf hat Handke im zitier-
ten Interview mit Schmidt-Mühlisch wenig später erneuert: „Nehmen Sie mal die ‚Gruppe
47‘, die sich nach dem Krieg anmaßte, Richter über die deutsche Literatur zu sein. Jämmer-
lich! Zwei der größten deutschen Dichter, Hermann Lenz und Ernst Meister, haben die bei
ihrem Unterliga-Spiel glatt übersehen. Die paßten nicht in ihr ‚Vernunft‘-Konzept. Da wurde
eine ganze literarische Generation zu einem Flachholz zurechtgeschnitten. Meinung, Trend,
Jargon
– das waren die Kriterien, nach denen diese Versammlung von Kleinbürgern ihren lite-
rarischen Schreber garten vermaß.“ (Schmidt-Mühlisch/Handke: Macht der stinkenden Fäulnis
[Anm. 311])
313 Handke: Einwenden und Hochhalten (Anm. 287), S. 129.
Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 139
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471