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den Grad der Unversöhnlichkeit, den das VerhÀltnis zwischen Handke und
Reich-Ranicki zu diesem Zeitpunkt erreicht hatte (was die Sache nicht besser
macht); umso verstörender ist es, dass Handke vierzehn Jahre spÀter, in seinem
vielgelobten Opus magnum Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994), erneut in
abschÀtziger Weise auf die Verfolgungserfahrung des Kritikers im Zweiten Welt-
krieg Bezug genommen hat.
So mĂ€chtig ging das Verstehen um, daĂ die Meinungsmacher in den Zeitungen fĂŒr
Deutschland mit ihrer Hirnschwellsprache fĂŒrs erste hinter ihren BĂŒroscheiben tonlos
allein blieben und mein einstiger Feind, weiter aktiv bei seinem BĂŒcher-Vernehmen
und -AusschnĂŒffeln, fĂŒr seine Wortspektakel keine Gaffer mehr fand und erstmals,
auĂerhalb seines Ghettos, zu GĂ€ngen verurteilt war in die von ihm verabscheute
Natur, wo ihm seinesgleichen aus jeder Blume und jedem Busch nichts als die eigene
Fratze entgegenstierte.29
Reich-Ranicki selbst hat die Praxis mancher Gegner, seine Vergangenheit im
Warschauer Ghetto ostentativ hervorzuheben, wiederholt und vehement als
Form eines perfiden Antisemitismus kritisiert.30 Hier geht es lÀngst nicht mehr
Aufzeichnungen November 1987 â Juli 1990. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2005, S. 218). â
Zu diesem schwierigen Komplex Hans Höller: Peter Handke. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt
2007, S. 106 â 108.
29 Peter Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein MĂ€rchen aus der neuen Zeit. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1994, S. 929 f. â Vgl. Volker Hage: Das Zittern der GrĂ€ser. In: Der Spiegel,
Nr. 45, 7. 11. 1994, S. 242 â 243, hier S. 243: âAls wĂ€re nicht ohnehin deutlich, wer dieser Kriti-
ker [âŠ] sein soll, gibt es â nicht zum erstenmal bei Handke â eine ĂŒberflĂŒssige Anspielung
auf Marcel Reich-Ranickis PrĂ€gung durch das Warschauer Ghetto.â â Dazu Uwe C. Steiner:
Literatur als Kritik der Kritik. Die Debatte um Peter Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht
und die Langsame Heimkehr. In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur (Anm. 7), S. 127 â 169,
hier S. 146 â 148.
30 Vgl. N. N.: âMir soll der Mund verboten werdenâ. Marcel Reich-Ranicki ĂŒber seine Populari-
tĂ€t, sein SelbstverstĂ€ndnis und die VorwĂŒrfe gegen ihn. In: SĂŒddeutsche Zeitung, 17. 6. 1994:
âWenn es heiĂt, âDer Jude und Kritiker, vom Ghetto geprĂ€gt fĂŒrs ganze Lebenâ, dann ist das
schon âStĂŒrmerââ. Vgl. auch die Kritik von Jochen Hieber: Staunen und Raunen. Peter Handkes
neuer Roman und die deutsche Literaturkritik. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. 1. 1995:
âHandkes HaĂsprache, die im Roman und im Zusammenhang mit Reich-Ranicki auch fahrlĂ€s-
sig und infam den Begriff âGhettoâ verwendet, fand vor kurzem in einem Interview des Autors
im âSternâ einen Tiefpunkt, der an schlimmste deutsche Zeiten erinnert: âweil man dem nichts
ĂŒbelnehmen kannâ, steht da ĂŒber den âFeindâ zu lesen, âweil er selber das GrundĂŒbel istâ. Die
nationalsozialistische Kampfpresse benutzte das Wort bestĂ€ndig: âDer Jude ist das GrundĂŒbel
der Welt.ââ Die Passage im stern, auf die Hieber rekurriert, lautete folgendermaĂen: âIn der
âFAZâ wurde ein Jahrzehnt lang jedes einzelne meiner BĂŒcher zerfleddert wie von Strauchdieben.
Und er war der Oberstrauchdieb.Â
[âŠ] Ich nehme das den âFAZâ-Leuten fast noch ĂŒbler als ihm,
weil man dem nichts ĂŒbelnehmen kann, weil er selber ein GrundĂŒbel ist. Als er selber nicht
Princeton 1966 und die Folgen 149
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471