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Entscheidung, die er einige Zeit später demonstrativ revidieren sollte.80 Reich-
Ranickis hämische Rezension von Wunschloses Unglück hatte bei Handke Spu-
ren hinterlassen: Im Gespräch mit Manfred Durzak ereiferte er sich Ende 1973,
anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises, über die „Lebenshaltun-
gen, die zum Beispiel aus Rezensionen sprechen. Das sind Menschen, mit denen
ich nie ein Wort sprechen könnte, mit denen ich nichts Gemeinsames, keine
Erinnerung austauschen könnte.“ 81 Handke führt seinen Gegenspieler nament-
lich als Beispiel für diese weitreichende wie tiefsitzende Antipathie an: „Ich
könnte nie mit diesen Menschen verkehren, ich könnte kein einziges mensch-
liches Wort mit ihnen wechseln, auch mit R.-R. nicht. Das sind halt fremde
Menschen.“ 82 Auch hinter der Antwort auf Heinz Ludwig Arnolds Frage, wie
sehr der Autor sich über Kritik an seinen Büchern ärgere, kann man den unge-
nannten Kontrahenten vermuten:
Ich habe schon manchmal, wenn ich so etwas lese, die Lust zu körperlichem Einschrei-
ten: daß ich dem einfach eins reinhauen möchte. Aber ich möchte nicht antworten;
meine Reaktionen haben sich mit der Zeit reduziert auf Gewaltvorstellungen, die ich
aber eh nicht ausführe.83
Abseits solcher Gewaltphantasien stand Mitte der 1970er Jahre eine professionelle
Zusammenarbeit zwischen dem Autor und dem Kritiker durchaus im Raum:
Bereits im Juni 1974 hatte Handke anlässlich von Franz Kafkas 50. Todestag einen
kurzen Beitrag über den Prager Schriftsteller im Feuilleton der Frankfurter All-
gemeinen Zeitung veröffentlicht.84 Deren Literaturredaktion wurde seit 1973 von
Marcel Reich-Ranicki geleitet; er versuchte gleich von Beginn seiner Tätigkeit
80 Siehe Peter Handke: Das Umfallen der Kegel von einer bäuerlichen Kegelbahn. In: Verteidigung
der Zukunft. Deutsche Geschichten seit 1960. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki. München: Piper
1972, S. 358 – 368. Auf die späteren Auflagen der Anthologie wird im Laufe dieses Kapitels im
Abschnitt „Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld“ noch genauer eingegangen.
81 Manfred Durzak: Für mich ist Literatur auch eine Lebenshaltung. Gespräch mit Peter Handke.
[1973] In: M. D.: Gespräch über den Roman. Formbestimmungen und Analysen. Frankfurt
a.
M.:
Suhrkamp 1976, S. 314 – 343, hier S. 330. Das Gespräch wurde 1973 in Auszügen in der ZEIT
gedruckt; die Äußerungen über Reich-Ranicki fielen dabei den Kürzungen zum Opfer und
wurden erst 1976 in dem zitierten Band veröffentlicht.
82 Ebd., S.
330 f. Vgl. dazu die spätere Äußerung Helmut Heißenbüttels, eines weiteren Intimfein-
des von Reich-Ranicki: „Ich kann nicht mehr mit ihm, mit einem Mann seiner Denkungsweise,
reden.“ (Helmut Heißenbüttel: Nachruf bei Lebzeiten. In: Text + Kritik [1988], H.
100, S.
26 – 28,
hier S. 28)
83 Heinz Ludwig Arnold: Gespräch mit Peter Handke. In: Text + Kritik (31976), H.
24/24a, S.
15 – 37,
hier S. 34.
84 Vgl. Peter Handke: Gewaltiger als alle Handlungen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. 6. 1974.
Zum Kontext vgl. Reinhard Urbach: Die Rezeption Franz Kafkas durch die jüngste österreichische
„Mein Feind in Deutschland“: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki160
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471