Seite - 165 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Lieber Marcel Reich-Ranicki,
was Sie über Wolfgang Koeppen geschrieben haben, hat mich in seinem so völlig
künstlichen, leeren Klappentext-enthusiasmus [sic] so elend gestimmt, daß ich nichts
zu Doderer für Ihre Zeitung schreiben kann.[ 100] Was so ganz und gar unkritisch, als
typisches (in der Literaturkritik typisches, übliches, hysterisches) Ausspielen einer
Figur gegen andre, an Koeppen da in diesem Fall, und nicht nur bei von Ihnen, son-
dern von allen Toastern, da geschieht, wird diesem ernsthaften, aber meist doch nur
rhetorischen, anempfindenden Schriftsteller nur schaden. Mich hat bei Ihrem so
durchschaubar emphatischen Gehudel jedenfalls derart die Wut gepackt, daß meine
Unbehaglichkeit Ihnen (d. h. Ihren Äußerungen) gegenüber schlagartig in die Gewiß-
heit einer notwendigen dauernden Unversöhnlichkeit mit einem für meine Augen
so offensichtlich nur lavierenden, sich für sich selber in seinen Arbeiten positions-
politisch opportun verhaltenden, nie eine kleine Überraschung oder gar Offenbarung
oder Leidenschaft in seiner Spracharbeit zeigenden Kritiker mir ein für alle Male klar
geworden umgeschlagen ist. Daß davon mein Respekt für den Raum, den Sie in Ihrer
Zeitung der poetischen Existenz, so lächerlich diese auch (mir auch) oft scheint, ist
und wird, gewähren, nur teilweise berührt wird, möchte ich doch zufügen.
Ihr Peter Handke 101
Handke hatte sich, folgt man zwei Notaten im Journalband Das Gewicht der
Welt, bereits an Vorarbeiten zu einem Doderer-Essay gemacht,102 las noch nach
der Abfassung seines ‚Wut-Briefs‘ die Strudlhofstiege und bekräftigte Hermann
Lenz gegenüber, „große Achtung und Zuneigung“ für Doderer zu empfinden.103
ein Eintrag über das anger management seiner Tochter: „Wenn A. auf Leute Wut hat, hat sie
Lust, ihnen etwas zu rauben“ (ebd., S. 201).
100 Es handelt sich um folgenden Beitrag in der Wochenend-Beilage der FAZ, in der sich neben Reich-
Ranicki auch Peter Demetz, Peter Härtling, Horst Krüger, Siegfried Lenz und Hans Mayer anlässlich
von Koeppens 70. Geburtstag zu Wort meldeten: „Daß Wolfgang Koeppen zu den bedeutendsten
deutschen Schriftstellern der Gegenwart gehört, ja, daß er vielleicht der originellste Prosapoet, der
vorzüglichste Stilist unserer zeitgenössischen Literatur ist – diese Behauptung wird die meisten
Leser verwundern. Und doch gleicht sie nur einer kühnen Banalität.“ (Marcel Reich-Ranicki: Der
Dichter der aggressiven Resignation. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. 6. 1976)
101 Peter Handke an Marcel Reich-Ranicki, 23. 6. 1976. In: Deutsches Literaturarchiv Marbach,
Handschriftensammlung, A: Reich-Ranicki, HS.2003.0002.00240.
102 Vgl. Handke: Das Gewicht der Welt (Anm.
99), S.
172 (27. 5. 1976) u.
177 (31. 5. 1976): „Und doch:
Doderer lesen und denken: Ach, diese ideale Welt! (Ein Seufzer der Sehnsucht)“ – „Doderer:
Es ist vielleicht ganz gut, wenn jemand beim Schreiben nicht mehr viel Sehnsucht spürt, son-
dern nur die Erinnerung daran als Energie für seine Figuren verwendet“.
103 Peter Handke an Hermann Lenz, 30. 9. 1976. In: P. H./H. L.: Berichterstatter des Tages. Briefwech-
sel. Hg. u. mit einem Nachwort von Helmut Böttiger, Charlotte Brombach u. Ulrich Rüdenauer.
Mit einem Essay v. Peter Hamm. Frankfurt a. M.: Insel 2006, S.
102; von der Lektüre der Strudl-
hofstiege zeugen mehrere Passagen in Handke: Das Gewicht der Welt (Anm. 99), S. 226, 229
Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre 165
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471