Seite - 168 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 168 -
Text der Seite - 168 -
Versehen mit dem Datum 21. bzw. 24. Oktober 1976 finden sich in Handkes
Journalband Das Gewicht der Welt zwei Einträge, die man wohl guten Gewis-
sens in diesen Zusammenhang stellen darf: „Schwierig: im Zorn trotzdem
die Beherrschung nicht verlieren (als sei das nur in alten Romanen möglich
gewesen)“ – „Feinde: kein Impuls mehr, sie zu beschimpfen, zu bekämpfen,
zu vernichten – nur noch die Befürchtung, sie könnten mich überleben: die
schändlichste Niederlage“.112 Ja, auch die am 29. Oktober skizzierte „Amok-
laufphantasie am Nachmittag“, die sich gegen willkürlich ausgewählte Per-
sonen und Objekte wendet, weil der Autor seine „Wut nicht auf denjenigen
richten“ kann, „der sie ausgelöst hatte“, kann man in diesem Kontext lesen;
„im Bewußtsein, daß gegen den Auslöser keine Tätlichkeit, nicht einmal eine
Äußerung mehr möglich war“, projiziert er seine Gewaltphantasien „auf eine
fremde Frau, der ich ein Messer hineinrennen wollte“, und „auf ein Schau-
fenster, das ich auf der Stelle eintreten wollte“.113 Der Journalschreiber wird, so
hat es den Anschein, vor allem von der Aussichtslosigkeit seines Widerstands
geplagt, empfindet er doch gleich darauf eine „völlige Schwächlichkeit, eine
den Körper und die Seele ganz entleerende Schwachheit und Ohnmacht“.114
Im Rückblick hat Handke wiederholt über das Gefühl der Hilflosigkeit ange-
sichts einzelner ablehnender Rezensionen berichtet, die ihn nachhaltig aus
der Fassung, aus der Balance gebracht hätten.
Hermann Lenz versicherte dem jungen Freund kurz darauf, am 30.
Oktober,
seine Solidarität gegen die „Saubande“ der Rezensenten, zu der er ausdrücklich
Reich-Ranicki rechnete. Auslassungen im 2006 edierten Briefwechsel der bei-
den Autoren lassen erkennen, dass hier Deftigeres zu Lebzeiten des Kritikers
nicht gedruckt werden sollte.115 In seiner Antwort vom 9.
November bezieht sich
Handke auf Lenz’ Polemik: „Die Kritik von Reich-Ranicki hat mich natürlich
wütend gemacht, aber nicht betroffen (betroffen höchstens darüber, wie solche
Figuren existieren können, ohne sofort von sich aus abzustinken)“.116
Wenig später folgte in einem Artikel zur Frankfurter Buchmesse 1977 die
nächste Spitze des Kritikers: An Peter Handke, der wie Botho Strauß einmal
„eine große Hoffnung unserer Literatur“ gewesen sei, könne man den „Verfall
eines Talents“ beobachten, „dessen Größenwahn jegliche Selbstkontrolle aus-
geschaltet hat“: „Nach der liederlich-kitschigen Erzählung ‚Die linkshändige
112 Handke: Das Gewicht der Welt (Anm.
99), S.
260 u.
265. Dazu der Kommentar in André Müller:
Im Gespräch mit Peter Handke. Weitra: Bibliothek der Provinz 1993, S.
66. Zur Deutung dieses
Satzes vgl. jetzt Karl Heinz Bohrer: Mit Dolchen sprechen. Der literarische Hass-Effekt. Berlin:
Suhrkamp 2019, S. 437.
113 Handke: Das Gewicht der Welt (Anm. 99), S. 270.
114 Ebd.
115 Lenz an Handke, 30. 10. 1976. In: Handke/Lenz: Berichterstatter des Tages (Anm. 103), S. 103.
116 Handke an Lenz, 9. 11. 1976. In: ebd., S. 105.
„Mein Feind in Deutschland“: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki168
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471