Seite - 171 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Unter dem Titel Peter Handke und der liebe Gott wurde Reich-Ranickis Rezen-
sion am 17. November 1979 im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
veröffentlicht. GenĂŒsslich wĂ€rmt der Kritiker darin seine bereits frĂŒher for-
mulierten EinwÀnde gegen Handke und dessen Leserschaft auf: Hatte er 1972
anlĂ€sslich der Besprechung der ErzĂ€hlung Wunschloses UnglĂŒck abschĂ€tzig fest-
gestellt, dass die âHandke-EuphorieÂ
[âŠ] von pensionsreifen Germanisten bis zu
zarten Gymnasiastinnenâ reiche,128 modifiziert er dieses Spektrum sieben Jahre
spĂ€ter nur geringfĂŒgig, um die âHandke-Euphorie, die um 1970 epidemisch um
sich griff und ebenso betagte Philologen wie zarte Teenager befielâ, erneut als
veritable Fehlleistung des Literaturbetriebs und als âmysteriöses PhĂ€nomenâ zu
beschreiben.129 Im RĂŒckblick auf dessen schriftstellerische Laufbahn zeichnet
der Rezensent Handke noch einmal als âTrotzköpfchenâ der deutschen Literatur,
dessen Prominenz nicht auf die QualitÀt der bislang vorgelegten literarischen
Arbeiten, sondern auf die geschickte Vermarktungsstrategie des jungen Autors
und seines Verlags zurĂŒckzufĂŒhren sei. Zudem setzt er das erzĂ€hlerische Ver-
fahren von Handkes Die linkshÀndige Frau ein weiteres Mal mit Courths- Mahler
in Beziehung, deren als âGroschenhefteâ aufgelegte Romane sich andauernder
PopularitĂ€t erfreuten: âDas ProsastĂŒck âDie linkshĂ€ndige Frauâ (1976), angeblich
eine âErzĂ€hlungâ, doch in Wirklichkeit der schludrig geschriebene Entwurf eines
Filmdrehbuchsâ, heiĂt es in der Rezension, ânĂ€hert sich bedenklich der Welt der
Hedwig Courths-Mahler.â 130
ZunÀchst richtet sich Reich-Ranicki in seiner maliziösen Besprechung von
Langsame Heimkehr aber gegen jene Vertreter seiner eigenen Zunft, die Hand-
kes Arbeiten in den vergangenen Jahren, trotz dessen augenfĂ€lliger âProduk-
tionskriseâ, âmeist kniend, also in einer Position, die weder das Denken noch
das Schreiben begĂŒnstigtâ, rezensiert hĂ€tten.131 Handke wird gleich eingangs
drauflosgehĂ€mmert haben.â (Konrad Funcke: Wir mĂŒssen fĂŒrchterlich stottern. Die Möglichkeit
der LiteraturÂ
â GesprĂ€ch mit dem Schriftsteller Peter Handke. In: SĂŒddeutsche Zeitung, 23. 6. 1988)
128 Reich-Ranicki: Die Angst des Peter Handke beim ErzÀhlen (Anm. 56).
129 Marcel Reich-Ranicki: Peter Handke und der liebe Gott. Zu der ErzÀhlung Langsame Heim-
kehr. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. 11. 1979. Zur Konstanz bestimmter Themen und
Urteile in der Handke-Rezeption vgl. Pfister: Handkes Mitspieler (Anm. 125), bes. S. 276 f.,
sowie zuletzt Alexander Honold: Der Erd-ErzÀhler. Peter Handkes Prosa der Orte, RÀume und
Landschaften. Stuttgart: Metzler 2017, S. 106, Anm. 2.
130 Reich-Ranicki: Peter Handke und der liebe Gott (Anm.Â
129). Der Kritiker hat die Autorin wieder-
holt als abschreckendes Beispiel trivialen ErzĂ€hlens angefĂŒhrt; vgl. etwa Reich-Ranicki: Der dop-
pelte Boden (Anm. 45), S. 47: âStatt [âŠ] nach des Tages Arbeit, wie es sich gehört, das Land der
Griechen mit der Seele zu suchen, warfen sich die schamlosen Leser an den Busen verschiedener
DamenÂ
â von Eugenie Marlitt und Nataly von Eschstruth bis zur Hedwig Courths-Maler [sic].â
131 Reich-Ranicki: Peter Handke und der liebe Gott (Anm. 129). Vgl. ebd.: âSo befindet sich
Handke nun schon seit Jahren in einer Produktionskrise, ĂŒber die nichts hinwegtĂ€uschen
kann â am wenigsten die emsigen BemĂŒhungen seiner Paladine. WĂ€hrend diese auch seine
âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 171
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471