Seite - 173 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Die Besprechung schlieĂt mit dem sĂŒffisanten Hinweis, Langsame Heimkehr
sei âdas seit Jahren erste Buch Peter Handkes, das sich auf keiner Bestsellerliste
findet. Man sage nicht, bei uns gĂ€be es keinen Fortschritt.â 137 Das neueste Buch
Handkes erreiche, so lautet Reich-Ranickis Insinuation, nun nicht einmal mehr
die dem Autor einst gewogenen Leserinnen und Leser. WĂ€hrend der Kritiker im
Sommer 1979 die Lyrik der bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend unbekannten
Autorin Ulla Hahn fĂŒr sich entdeckt hatte und in und mit der FAZ mit Nach-
druck fĂŒr sie eintrat,138 war Handke mit dem Verriss der Langsamen Heimkehr
endgĂŒltig zur persona non grata in der Frankfurter Redaktion geworden.
Bei diversen Gelegenheiten sollte der Kritiker in den folgenden Jahren die
EinschĂ€tzung wiederholen, Handke habe sich Ende der 1970er Jahre auf âreli-
giöse Literaturâ kapriziert 139 und damit endgĂŒltig die SchĂ€rfe des Verstandes
eingebĂŒĂt sowie den Anschluss an eine ernstzunehmende Gegenwartsliteratur
verloren. Gut eineinhalb Jahre nach seiner Rezension von Langsame Heimkehr
nahm Reich-Ranicki lÀngere Passagen aus ihr in seine ebenfalls in der FAZ
gedruckte Abhandlung Gibt es eine neue Innerlichkeit? auf, um anhand des bei
Handke âreichlich verwendete[n] sakrale[n] Vokabular[s]â zu veranschaulichen,
âdaĂ die Innerlichkeit in unserer Epocheâ zumeist âmit kĂŒnstlerischer QualitĂ€ts-
einbuĂe, ja mit literarischem Verfall zu tun hatâ.140 Fest steht: Selbst im Kontext
einer Ă€uĂerst âkontroversen Rezeptionâ 141 der ErzĂ€hlung im deutschsprachigen
137 Ebd. Wolf: Autonomie und/oder Aufmerksamkeit? (Anm. 4), S. 55, Anm. 49, zufolge zeigt
Reich-Ranickis Rezension von Langsame Heimkehr âseine völlige VerstĂ€ndnislosigkeit gegen-
ĂŒber maĂgeblichen Errungenschaften der literarischen Moderneâ.
138 Vgl. Joachim Wittkowski: Das souverĂ€ne Bekenntnis zu sich selbst. Notizen zu einem âFallâ der
bundesdeutschen Literaturkritik. In: Text + Kritik (1988), H. 100, S. 59 â 65.
139 Eine Diagnose, die schon 1979 auf einer sehr selektiven LektĂŒre der Langsamen Heimkehr beruht,
da der Text auf der Distanz zu Formen traditioneller ReligiositÀt und institutionell abgesicher-
ten Glaubens beharrt: âEs verlangte ihn wohl nach einem auf etwas gerichteten Glauben, ohne
daĂ er sich einen Gott je denken konnte; aber in Zeiten der BedrĂ€ngnis merkte er, daĂ erÂ
â bloĂ
zwanghaft? â geradezu flehentlich immer einen Gott mitdenken wollte. (Zuweilen wĂŒnschte
er sich, fromm zu seinÂ
â was ihm nie gelang; er war dann aber sicher, daĂ âdie Götterâ ihn ver-
standen.)â (Handke: Langsame Heimkehr [Anm.Â
28], S.Â
17)Â
â Zur Reaktion der Literaturkritik
auf den Komplex âMetaphysik/Religionâ in Langsame Heimkehr, die die Unterscheidung von
Autor und Figur mitunter geflissentlich ignorierte, vgl. Pfister: Handkes Mitspieler (Anm.Â
125),
S. 134 â 144; Graf: Peter Handke und seine Kritiker (Anm. 72), S. 93 f.
140 Marcel Reich-Ranicki: Gibt es eine neue Innerlichkeit? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
6. 6. 1981; zit. nach: M. R.-R.: Nichts als Literatur. AufsÀtze und Anmerkungen. Stuttgart: Reclam
1990, S.Â
78 â 85, hier S.Â
85. Die oben bereits zitierte Stelle aus der Besprechung von Langsame Heim-
kehr wird darin nur geringfĂŒgig variiert: âHandke, der in den spĂ€ten sechziger und den frĂŒhen
siebziger Jahren ein wichtiger Vertreter der jungen Literatur war, schreibt, seit es sein Ehrgeiz ist,
sich als HeilsverkĂŒnder zu betĂ€tigen, eine angestrengte und hochpathetische Prosa. Ihre schiefen
Bilder und preziösen Vergleiche können die DĂŒrftigkeit seiner Gedanken nicht verbergen.â
141 Pfister: Handkes Mitspieler (Anm. 125), S. 120.
âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 173
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471