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„dürftige Skizze über das Besondere und das Allgemeine“, Handke selbst als einen
„Propheten“ und „empfindsamen Zeitgenossen“, der seinen literarischen Zenit
längst überschritten habe; Görtz verriss Handkes Lehre der Sainte-Victoire also
gewisser maßen stellvertretend für seinen Vorgesetzten.152
Reich-Ranicki selbst konstatierte in einem Kommentar zu den aktuellen Program-
men deutscher Verlage lediglich, es handle sich ganz allgemein um einen „schlech-
te[n] Bücherherbst“, in dem sogar die „bewährten Autoren“ wie Jurek Becker, Hans
Magnus Enzensberger oder Adolf Muschg nur mittelmäßige Werke vorgelegt hät-
ten.153 Ohne Handkes neuestes Buch mit einem Wort zu erwähnen, kann er sich
einen Seitenhieb doch nicht verkneifen: Der rezente Erfolg des Frankfurter Suhr-
kamp Verlags und seines Verlegers Siegfried Unseld habe dazu geführt, dass dieser
sich „alles leisten“ könne:
[W]enn er Lust hätte, auch eine Ludwig-Ganghofer-Gesamtausgabe. Oder die Gesam-
melten Werke von Peter Rosegger. Ich sehe sie schon vor mir: acht Bände in Leinen
und gleichzeitig eine Werkausgabe in der edition suhrkamp, ausgestattet von Willy
Fleckhaus, mit einem Vorwort von Peter Handke (das sich allerdings als eine Nach-
erzählung des Buches Als ich noch ein Waldbauernbub war erweisen wird) und mit
einem Essay über die Heimatliteratur von Martin Walser, einer Arbeit aus dem Jahre
1976, in der sich kein Wort über Rosegger findet.154
Karikiert Reich-Ranicki hier vorderhand die Programmplanung des Suhrkamp
Verlags, der aufgrund seines Erfolgs und des Renommees seiner Autoren sogar
mit einer Ganghofer- oder Rosegger-Ausgabe reüssieren könne, ist die von ihm
skizzierte editorische Dystopie vor allem ein Anlass zur erneuten Stichelei gegen
Handke. Mit dem fingierten Titel des Vorworts, der Handkes 1968 publizierten
Lektürebericht Als ich „Verstörung“ von Thomas Bernhard las aufgreift, spielt der
152 Franz Josef Görtz: Wallfahrt eines Propheten. Peter Handkes Die Lehre der Sainte-Victoire. In:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 12. 1980. Ein gutes Jahrzehnt später hat Handke diesen Stellver-
treterangriff im stern-Gespräch mit Sven Michaelsen als gängige Praxis dieser Zeit moniert: „Als er
[i. e. Reich-Ranicki] selber nicht mehr schrieb, haben sich ‚FAZ‘-Leute dazu hergegeben, in seinen
Diensten meine Bücher anzufaulen. Nie werde ich ihm auch nur das Kleinste verzeihen können.“
(Michaelsen/Handke: „Ab und zu sticht mich ein Teufelchen“ [Anm.
30], S.
126)
153 Marcel Reich-Ranicki: Der Kaiser ist nackt oder: Über den Herbst unserer Bücher. In: Frank-
furter Allgemeine Zeitung, 17. 10. 1980; zit. nach: M. R.-R.: Nichts als Literatur (Anm. 140),
S. 66 – 77, hier S. 71.
154 Ebd., S. 70. Traut man den Memoiren von Friedrich Christian Delius: Als die Bücher noch
geholfen haben. Biografische Skizzen. Berlin: Rowohlt 2012, S. 52, hatte Handke 1966 im
Anschluss an die Princetoner Tagung „auf dem Empire State Building“ in New York nicht
nur sich selbst als „den neuen Kafka“ ausgerufen, sondern auch Günter Grass „als ‚den bes-
seren Ganghofer‘“ abgekanzelt.
„Mein Feind in Deutschland“: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki176
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471