Seite - 178 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Handke habe âsein Buch gar nicht um jeden Preis der Kritik entziehenâ wol-
len, âihn interessiert diese Kritik einfach nicht (mehr)â.161 Nicht wenige Rezen-
senten sahen in der âSelbstbefragung des Schriftstellersâ 162 auch einen weiteren
Schritt Handkes in seiner Abkehr vom zeitgenössischen Literaturbetrieb: âDer
Schriftsteller hat dieses Buch und möglicherweise auch manche seiner frĂŒheren,
dieses aber speziell, so geschrieben, weil alle anderen Schriftsteller ihre BĂŒcher
so schreiben, wie er sie nie schreiben wĂŒrdeâ, so Gunter SchĂ€ble im Spiegel.163
SchĂ€ble macht Handke somit dessen zu offensichtliches BemĂŒhen, anders schrei-
ben zu wollen als âalle anderen Schriftstellerâ, zum Vorwurf. Seine Kritik trifft
sich jedoch recht genau mit einem entscheidenden Antrieb von Handkes liter-
arÀsthetischem Neuansatz im Umfeld und im Nachhall von Langsame Heimkehr:
nicht mehr âdas Kind seiner Zeit zu seinâ,164 sondern seine Poetik ganz bewusst
als provokativen, weil betont anachronistischen Gegenentwurf zum Status quo
des literarischen Feldes zu verfolgen. Handke suchte, wie Otto Lorenz anschau-
lich gezeigt hat, zumal im Kontext der Neuausrichtung seines Schreibens Ende
der 1970er Jahre âkonsequent individualistisch seinen eigenen Wegâ; seine âlite-
rarische Methodeâ definierte er dabei stets âin kritischer Abwehr von bereits
festgeschriebenen Konventionenâ.165
Erst im MĂ€rz 1989166 hat Handke in einem ausfĂŒhrlichen GesprĂ€ch mit AndrĂ©
MĂŒller in der Hamburger ZEIT bekannt, als âkleine Bosheitâ in die Lehre der
Sainte-Victoire âein langes Kapitel ĂŒber den Kerl aus Frankfurtâ eingearbeitet
zu haben, âwo er als Hund auftrittâ. Auf MĂŒllers Nachfrage, ob er damit Reich-
Ranicki, der bereits zuvor Thema des GesprÀchs gewesen war, meine, bestÀtigt
Handke dies: âJa, das hat mir unglaubliches VergnĂŒgen bereitet.â 167Â
â Eingebettet
161 Ebd.
162 Sigrid Löffler: Erdforschung. In: profil, Nr. 41, 6. 10. 1980, S. 61.
163 Gunter SchÀble: Vom Himmel durch die Welt zur Helle. In: Der Spiegel, Nr. 50, 8. 12. 1980,
S. 213 â 216, hier S. 215.
164 Peter Handke: Aber ich lebe nur von den ZwischenrĂ€umen. Ein GesprĂ€ch, gefĂŒhrt von Herbert
Gamper. ZĂŒrich: Ammann 1987, S. 125.
165 Lorenz: Die Ăffentlichkeit der Literatur (Anm. 25), S. 167.
166 Das Interview fand bereits am 15. Oktober 1988 statt. Vgl. die Angabe in MĂŒller: Im GesprĂ€ch
mit Peter Handke (Anm.Â
112), S.Â
59. Hatte Reich-Ranicki womöglich schon vor der Publikation
des GesprĂ€chs im MĂ€rz 1989 von Handkes ĂuĂerungen Wind bekommen? In einem Fragebogen
der ZEIT beantwortete er den Punkt âWas verabscheuen Sie am meisten?â jedenfalls schon Ende
1988 mit: âZur Zeit: Unversöhnlichkeit, die von verletzter Selbstliebe herrĂŒhrt, und Rachsucht,
die mit maĂlosem Ehrgeiz zu tun hat.â (Grn [i. e. Ulrich Greiner]: Marcel Reich-Ranicki geht
und bleibt. In: DIE ZEIT, Nr. 1, 30. 12. 1988, S. 44)
167 AndrĂ© MĂŒller: Wer einmal versagt im Schreiben, hat fĂŒr immer versagt. [GesprĂ€ch mit Peter
Handke.] In: DIE ZEIT, Nr. 10, 3. 3. 1989, S. 77 â 79, hier S. 79. In der Folge zit. nach: MĂŒller:
Im GesprĂ€ch mit Peter Handke (Anm. 112), S. 57 â 102, hier S. 88. Zur Aufdeckung des Reich-
Ranicki-Bezugs im vierten Kapitel der Lehre der Sainte-Victoire vgl. auch die Schilderung in
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki178
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471