Seite - 185 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Hund schließlich nicht mehr zu sehen, „oder er lag als Lehmklumpen in einem
Hohlweg“.204 Erst im zeitlichen Abstand ist der Erzähler in der Lage, im Glau-
ben an seine „Unverwundbarkeit“ auf seiner poetischen Methode zu beharren,
„den Coup [zu] wagen und aufs Ganze [zu] gehen“: „Und ich spürte die Struktur
all dieser Dinge in mir, als mein Rüstzeug. TRIUMPH! dachte ich – als sei das
Ganze schon glücklich geschrieben.“ 205 Hier werden nicht nur Konzeption und
Entstehung des Textes in die Narration einbezogen, sondern Handke verschränkt
den Aspekt der Werkgenese auch mit der Imagination einer kritischen Instanz,
gegen die sich die Lehre als Antizipation der Ablehnung bereits vorab wendet.
Dass Handke den verhassten Kritiker in der Lehre der Sainte-Victoire, also in
der Landschaft Paul Cézannes, ausgerechnet als Hund auftreten lässt, ist – geht
man nach den Erinnerungen des Malers und Kunsttheoretikers Émile Bernard
(1868 – 1941) – womöglich kein Zufall, sondern bereits im historischen Bezugs-
system der bildenden Kunst angelegt. Der 1906 verstorbene Cézanne habe, so
Bernard, über Jahre am Sujet einer Apotheose des Eugène Delacroix gearbeitet,
auf deren Entwürfen neben Camille Pissarro und Claude Monet auch „ein bel-
lender Hund abgebildet gewesen sei“, der nicht nur „ein Symbol des Neides dar-
stellte“, sondern auch „die Kunstkritik symbolisieren sollte“:206
Er plante, eine Apothéose de Delacroix zu malen, und zeigte mir die Skizze dazu. Der
Meister der Romantik war dargestellt, wie er von Engeln, von denen der eine seine
Pinsel, der andere seine Palette hielt, tot emporgetragen wird. Darunter dehnte sich
eine Landschaft aus, in welcher Pissarro an seiner Staffelei vor dem Motiv stand. Zur
Rechten war Claude Monet und im Vordergrund Cézanne, von hinten gesehen, mit
einem großen Barbizonhut auf dem Kopf, einen Spieß in der Hand und einer Jagd-
tasche an der Seite. Zur Linken befand sich Herr Choquet, der den Engeln applaudierte.
Endlich präsentierte ein bellender Hund (das Symbol des Neides, nach Cézanne) in
einem Winkel die Kritik.207
204 Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 10), S. 111.
205 Ebd., S. 115 f. Zu dieser Passage vgl. die Interpretation von Johanna Bossinade: Moderne Text-
poetik. Entfaltung eines Verfahrens. Mit dem Beispiel Peter Handke. Würzburg: Königshausen
& Neumann 1999, S. 152. Mehr als drei Jahrzehnte später hat Handke die Wendung in seinem
bislang letzten Journalband erneut aufgegriffen, wo es in einem 2014 festgehaltenen Notat heißt:
„Schreiben, Tun: aufs Ganze gehen.“ (Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen
und Anflüge von der Peripherie. 2007 – 2015. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2016, S. 317)
206 Reulecke: Geschriebene Bilder (Anm. 183), S. 68, Anm. 61. Dieser Deutung des Hundes folgt,
bezugnehmend auf Bernard, auch Oskar Bätschmann: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere
im modernen Kunstsystem. Köln: DuMont 1997, S. 109: „[…] und der bellende Hund – der
Neid – soll die Kritik darstellen.“
207 Emile Bernard: Erinnerungen an Paul Cézanne, 1904 – 1906. [1907] In: Gespräche mit Cézanne.
Hg. v. Michael Doran. Deutsch v. Jürg Bischoff. Zürich: Diogenes 1982, S. 68 – 106, hier S. 92.
Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 185
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471