Seite - 194 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 194 -
Text der Seite - 194 -
dem Start des Quartetts â die erste Sendung wurde im MĂ€rz 1988 ausgestrahlt â
hatte Handke in einem Journaleintrag vom 29.Â
April 1987 bereits vielsagend und
klar referenzierbar festgehalten: ââSich ein Buch vornehmenâ, sagte gestern abend
im Fernsehen der in der Rolle eines Kritikers auftretende Wahnsinnige: âWenn
ich mir ein Buch vornehme âŠââ.247 Am Vorabend des Eintrags hatte die ARD
die Dokumentation Der Literaturpapst. Auseinandersetzungen mit dem Kritiker
Marcel Reich-Ranicki (Regie: Martin LĂŒdke) erstmals ausgestrahlt.248 Handkes
Notat war demnach eine unmittelbare Reaktion auf das Gesehene.
Im Oktober 1989, ein halbes Jahr nach Erscheinen des ZEIT-Interviews mit
AndrĂ© MĂŒller, folgte der erste Angriff Reich-Ranickis auf Handke im Literari-
schen Quartett. Bereits einleitend spottete er ĂŒber âdas groĂe[Â
] Werkâ Handkes,
weil dieses nur â31 Maschinseiten Manuskriptâ umfasse,249 unterbrach in der
Folge Sigrid Löfflers Vorstellung des Buches mehrmals mit despektierlichen
EinwĂŒrfenÂ
â âich meine, das ist doch Schwachsinn, das ist doch schrecklichâ 250Â
â
und machte sich, an die passionierte Handke-Leserin Löffler gewandt, erneut
In: Machen â Erhalten â Verwalten. Aspekte einer performativen Literaturgeschichte. Hg. v.
Burckhard DĂŒcker. Göttingen: Wallstein 2016, S. 61 â 68, hier S. 65, ĂŒber die Rolle des âzum
Entertainer aufgestiegenen Kritiker[s]â; Baumgart: Damals (Anm.Â
9), S.Â
198, hat Reich-Ranickis
Auftritte im Fernsehen als âein mimisches, gestisches, hochtheatralisches eher als argumenta-
tives Ereignisâ bezeichnet.
247 Peter Handke: Am Felsfenster, morgens. In: manuskripte 27 (Oktober 1987), H. 97, S. 3 â 9,
hier S.Â
8; in der 1998 erschienenen Buchfassung wird das Kritiker-Zitat abschlieĂend mit dem
Wort âDrohungâ versehen: ââWenn ich mir ein Buch vornehmeâ: Drohungâ (Handke: Am
Felsfenster morgens [Anm.Â
223], S.Â
471). Vgl. dazu noch Peter Handke/Peter Hamm: Es leben
die Illusionen. GesprÀche in Chaville und anderswo. Göttingen: Wallstein 22008, S. 164 f., wo
Handke im GesprÀch mit Peter Hamm die Kritik an Reich-Ranickis Vokabular und Rollenver-
stĂ€ndnis mit der Apotheose einer anderen (d. h. seiner) Idee von Literatur kontrastiert: âWenn
der groĂe BĂŒcher-sich-Vornehmer, wie er sich selbst nennt, da in Deutschland, ĂŒber GĂŒnter
Grass sagt, keiner beherrsche die deutsche Sprache so wie GĂŒnter Grass, dann weiĂ ich schon:
Also, wenn einer die deutsche Sprache âbeherrschtâ, da kann nicht viel in dem Buch leben, in
BĂŒchern leben. Die Sprache soll leben! Leben und leben lassen. Und rhythmisieren. Und Luft
durchgehen lassen.â
248 Vgl. Gesellschaft fĂŒr Exilforschung: Nachrichtenbrief 1984 bis 1993 mit Gesamtregister. Bd. 1.
Redaktion: Ernst Loewy. MĂŒnchen u. a.: Saur 1995, S. 162.
249 Marcel Reich-Ranicki: Peter Handke, Versuch ĂŒber die MĂŒdigkeit im Literarischen Quartett
[ZDF], Sendung Nr. 7, 12. 10. 1989. In: https://www.youtube.com/watch?v=DC9sROS0Poo
(Stand 14. 10. 2020), 23:29 â 23:40. Eine vollstĂ€ndige Transkription der Sendung findet sich
in: Das Literarische Quartett. Gesamtausgabe aller 77 Sendungen von 1988 bis 2001. 3 Bde.
Berlin: Directmedia 2006, hier Bd. 1, S. 181. â AnsĂ€tze zu einer linguistischen Analyse der
Debatte zu Versuch ĂŒber die MĂŒdigkeit hat Susanne PĂŒtz: âDas Literarische Quartettâ â
Elite-Show oder Show-Elite. In: Arbeitshefte Bildschirmmedien (1990), H.Â
21, S.Â
16 â 63, hier
S. 29 f., vorgelegt.
250 Reich-Ranicki: Peter Handke, Versuch ĂŒber die MĂŒdigkeit (Anm. 249), 25:25 â 25:30; vgl. Das
Literarische Quartett. Bd. 1 (Anm. 249), S. 181.
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki194
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471