Seite - 206 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Danach befragt, wen er in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur beson-
ders schÀtze, antwortete Reich-Ranicki im Interview mit den Spiegel-Redakteu-
ren Volker Hage und Mathias Schreiber, im selben Heft der Zeitschrift gedruckt,
Peter Handke zĂ€hle âbestimmt nichtâ dazu.303 Dieser arbeitete, mittlerweile
nach Chaville bei Paris ĂŒbersiedelt, in jenem Herbst 1993 intensiv an einer gro-
Ăen epischen ErzĂ€hlung, die ein Jahr darauf unter dem Titel Mein Jahr in der
Niemandsbucht erscheinen sollte.304 Wie schon in Die Lehre der Sainte-Victoire
gehen darin narrative und essayistische, autobiographische, poetologische und
fiktionale Passagen ineinander ĂŒber, ergeben eine komplexe und anspielungs-
reiche Textur. Auf mehr als 1000 Seiten stellt der Band, wie Jan Wiele gezeigt hat,
einen âHybrid aus Chronik, Selberlebensbeschreibung, Tagebuchâ vor 305 und liegt
damit, anderen BĂŒchern Handkes vergleichbar, quer zu den ĂŒblichen Gattungs-
formen. Indem er es im Untertitel als âMĂ€rchen aus der neuen Zeitâ ausweist,
greift Handke auf die Genrebezeichnung von E. T. A. Hoffmanns Der goldene
Topf zurĂŒck. Mein Jahr in der Niemandsbucht handelt, in einem komplexen Sys-
tem von Alter-Ego- und DoppelgÀnger-Figuren,306 von der Schreiberexistenz
des Gregor Keuschnig. Diesen Namen hatte Handke schon dem Protagonisten
der fast zwei Jahrzehnte zuvor erschienenen ErzÀhlung Die Stunde der wahren
Empfindung (1975) gegeben.
Was mein Buch von den Vorzeitformen alias der SchimÀrischen Welt betraf, so dachte
ich wĂ€hrend meiner RĂŒckfĂ€lle, damit falsch aufgehört zu haben, und derart ein
Gescheiterter und zugleich endlich an meinem Platz zu sein, und dann wiederum, auf
es mein ganzes weiteres Leben bauen zu können, oder wenigstens ein StĂŒck davon.307
Zentrale Stationen und Konstellationen der Handkeâschen Werkbiographie sind
hier und an anderen Stellen des Opus magnum klar wiederzuerkennen: âDie
Vorzeitformenâ, die Bezeichnung des ersten Kapitels von Langsame Heimkehr,
hatte Handke zunÀchst als Titel des gesamten Buches im Auge gehabt; die in
der Niemandsbucht geschilderte Schreibkrise des Gregor Keuschnig ist an jene
303 Volker Hage/Mathias Schreiber: âKritiker sind einsamâ. Marcel Reich-Ranicki ĂŒber sich selbst
und die deutsche Literatur. In: Der Spiegel, Nr. 40, 4. 10. 1993, S. 279 â 287, hier S. 287.
304 Die Entstehungsgeschichte des Buches rekonstruiert Raimund Fellinger: âSchreiben: Sich zur
Ruhe setzenâ. Die Entstehung von Mein Jahr in der Niemandsbucht. In: Peter Handke. Freiheit
des SchreibensÂ
â Ordnung der Schrift. Hg. v. Klaus Kastberger. Unter Mitarb. v. Clemens Ăzelt.
Wien: Zsolnay 2009, S. 133 â 142.
305 Wiele: Poetologische Fiktion (Anm. 39), S. 206.
306 Vgl. Christoph Parry: Der Prophet der Randbezirke. Zu Peter Handkes Poetisierung der Peri-
pherie in Mein Jahr in der Niemandsbucht. In: Text + Kritik (61999), H.Â
24/24a, S.Â
51 â 61; Wiele:
Poetologische Fiktion (Anm. 39), S. 216 â 218.
307 Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht (Anm. 29), S. 404.
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki206
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471