Seite - 208 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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[M]ein Feind in Deutschland, inzwischen der umschmeichelte Vornamensfreund
meines ehemaligen Verlegers (aber auch zuvor schon, sooft ich bei diesem eintrat,
war mein Stuhl noch von dem anderen stinkheiĂ gewesen), warf mir, als ich ihm, der
ĂŒberall war und nirgends, dann einmal ĂŒber den Weg, nein, er war ohne Weg, lief, in
seinem Vorbeiteufeln, mit dem GeÀug eines wahnsinnigen, zu seinem Leidwesen von
seinem Wutobjekt durch einen Zaun abgehaltenen Hundes, hin: âNa, Herr Pelegrin-
Keuschnig, wie gehen die GeschĂ€fte?â (Wieder einmal war er der Schlaue, nur wuĂte
er nicht, daĂ auch Keuschnig ein angenommener Name war. Und wie immer verlor
er, der sonst bewĂ€hrte SchnĂŒffler und ReiĂer, die FĂ€hrte bei den Sachen, die zĂ€hlen,
indem diese nÀmlich beinahe duftlos sind.)312
Im GesprĂ€ch mit AndrĂ© MĂŒller hat Handke diesen Satz 2007, befragt nach Kon-
takten mit dem Kritiker, ausdrĂŒcklich Reich-Ranicki zugeschrieben: âIch bin ihm
einmal auf der Frankfurter Buchmesse, als ich zum letzten Mal dort war, begeg-
net. Da ging er an mir vorbei und sagte: âHerr Handke, wie gehen die GeschĂ€fte?â
Seither frage ich das auch alle, die mir begegnen.â 313
Im Abstand einiger Jahre hat Handke Mein Jahr in der Niemandsbucht als sein
Pendant zu Adalbert Stifters Nachsommer bezeichnet, wÀhrend der 2002 erschie-
nene Band Der Bildverlust nach Aussage des Autors seine Entsprechung in Stifters
sperrigem Alterswerk Witiko habe.314 An der Kontrolle der Affekte, der BezÀhmung
emotionaler Gewalten, die in Stifters TextenÂ
â allen diesem Ideal inhĂ€renten BrĂŒ-
chen und GefĂ€hrdungen zum TrotzÂ
â vorgefĂŒhrt wird, scheitert Handkes Autor-
Protagonist jedoch: Die âPhantasien der Versöhnungâ 315 werden ein ums andere
Mal von der âBereitschaft zur Entzweiungâ 316 unterlaufen; Zorn und Wut ĂŒber
ihr literarisches Erscheinen soll die Kolporteure beschĂ€ftigenâ; J. B.: Ein Zank. Schriftsteller
gegen Kritiker. In: SĂŒddeutsche Zeitung, 23. 12. 1994: âHandke hat in seinem Roman Mein Jahr
in der Niemandsbucht Passagen eingestreut, in denen ein namenloser, aber nur zu allzu [sic]
gut erkennbarer Literaturkritiker auf das derbste verunglimpft wird.â
312 Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht (Anm. 29), S. 422.
313 MĂŒller/Handke: âEin Idiot im griechischen Sinneâ (Anm. 28), S. 56. Vgl. dazu die Beobach-
tung von Graf: Peter Handke und seine Kritiker (Anm. 72), S. 90, Handke sei âjahrelang mit
wirtschaftsnahem Vokabular unterstelltâ worden, âmit seinem Schreiben vor allem Verkaufs-
erfolge anzustrebenâ.
314 Vgl. Thomas Steinfeld: Ich erzĂ€hle von einem Leben, das ĂŒber mich hinausgeht. [GesprĂ€ch
mit Peter Handke.] In: SĂŒddeutsche Zeitung, 30. 1. 2002; Handke/Hamm: Es leben die Illu-
sionen (Anm. 247), S. 74. â Zu Handkes Stifter-Rezeption vgl. Sabine Schneider: Adalbert
Stifter, die Literatur des 20. Jahrhunderts und die methodischen Paradigmenwechsel der
Literaturwissen schaft. In: Die Literatur der Literaturtheorie. Hg. v. Boris PreviĆĄiÄ. Bern u. a.:
Lang 2010, S. 187 â 199, sowie zuletzt Maria Luisa Roli: âVarianten der Wiederholungâ. Peter
Handkes Stifter-Rezeption. In: Die tĂ€gliche Schrift (Anm. 103), S. 133 â 152.
315 Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht (Anm. 29), S. 168.
316 Ebd., S. 164.
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki208
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471