Seite - 209 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 209 -
Text der Seite - 209 -
die Widersacher, die „Bedrohungen und Hindernisse“ 317 des Schreibens, drän-
gen an die Oberfläche der Erzählung; die „Ruhe“, die Keuschnig findet, wenn er
in den Rhythmus des Schreibens kommt,318 erweist sich stets aufs Neue als fragil.
Gegen Ende des Buches, im ausgreifenden, fast ein Viertel des gesamten Textes
einnehmenden Kapitel „Das Jahr“, wird die Situation Deutschlands nach einem
verheerenden „Binnenblitzkrieg“ geschildert; dieser habe dem Land zu einer
Art von Befreiung verholfen und eine durchaus positiv gezeichnete Regression
in einen ursprünglichen Natur-Zustand mit sich gebracht:
In der Tat hatten selbst die deutschen Landschaften andere Züge angenommen, etwa
indem zwischen den Hochhäusern auf einmal im Himmel sich Perspektiven zeigten,
wo seit Hölderlin nie welche gewesen waren, oder auch, indem zum Beispiel der Fluß
Spree in Berlin, bis dahin tümpelhaft und wie gestockt, unversehens ins Strömen kam
und über Katarakte und Wasserfälle wieder durch ein Urstromtal rauscht.319
Der beschriebene „Ruck nach oben“ betrifft nicht nur den Blick des Erzählers
auf die topographische Struktur Deutschlands im Sinne einer Wiedergewin-
nung landschaftlicher Schönheit, sondern er tangiert auch den Bereich des
öffentlichen Sprechens: Es handelt sich, so Keuschnig, um eine Zeit, in der
„die Meinungsmacher in den Zeitungen
[…] mit ihrer Hirnschwellsprache fürs
erste hinter ihren Büroscheiben tonlos allein“ bleiben, also ihr Publikum nicht
mehr erreichen.320 Sogar Keuschnigs „einstiger Feind, weiter aktiv bei seinem
Bücher-Vornehmen und -Ausschnüffeln“, findet „für seine Wortspektakel
keine Gaffer mehr“. Der frühere Kontrahent sei nun, aus der Mitte der media-
len Aufmerksamkeit gerückt, „zu Gängen […] in die von ihm verabscheute
Natur“ verurteilt, „wo ihm […] aus jeder Blume und jedem Busch nichts als
die eigene Fratze entgegenstiert[ ]“.321 Der „Landschaftshasser Reich-Ranicki“,
wie ihn Ulrich Greiner erst kürzlich apostrophiert hat,322 rückt so ein weiteres
Mal als böswilliger „Bücher-Vornehme[r]“ in den Fokus des Erzählens; in der
märchenhaften Zukunftsvision eines anderen Deutschland, in dem die Brüder
Grimm ihre Sammeltätigkeit wieder aufnehmen, in der Novalis als Bildhauer
auftritt und Eduard Mörike „sich für sein Pfarrhaus einen Anrufbeantworter
317 Ebd., S. 766.
318 Ebd., S. 879.
319 Ebd., S. 928 f.
320 Ebd., S. 929.
321 Ebd., S. 929 f.
322 Ulrich Greiner: Der Makel der Lesbarkeit. Als Marcel Reich-Ranicki die Deutschstunde frag-
würdig fand. In: DIE ZEIT, Nr. 7, 9. 2. 2017, S. 39.
Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 209
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471