Seite - 215 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Die Fehde hatte durch den allmĂ€hlichen RĂŒckzug Reich-Ranickis aus der
Ăffentlichkeit â er feierte 2007 seinen 87. Geburtstag â mit der Zeit an SchĂ€rfe
eingebĂŒĂt, obgleich Handke im zitierten Interview den Topos der versuchten
âVernichtungâ ein weiteres Mal aufgreift und als einschneidende Erfahrung seiner
Schreib-Biographie anfĂŒhrt.348 Weitere fĂŒnf Jahre spĂ€ter, im Oktober 2012, elf
Monate vor Reich-Ranickis Tod, zeigte sich Handke in einem weiteren Interview
zwar ansatzweise konziliant â âWollen wir den jetzt seinen Lebensabend ruhig
verbringen lassen?â 349Â
â, rief im gleichen Atemzug aber auch die Schilderung des
Kritikers in der Lehre der Sainte-Victoire in Erinnerung, um, der Rhetorik des
Textes folgend, das intellektuelle Erbe Reich-Ranickis ante mortem zu âzusam-
mengeschustert[en]â Exkrementen zu erklĂ€ren:
Es ist ĂŒberhaupt kein Problem mehr fĂŒr mich. Es ist nichts zu versöhnen. Es ist vorbei.
Ich bin der, der dies gemacht hat, und er ist der, der das zusammengeschustert hat.
Ich glaube, das ist unsterblich, wie ich es in der Lehre der Sainte-Victoire geschrieben
habe: Ein paar getrocknete Haufen liegen herum von dem Hund.350
Noch 2018, fĂŒnf Jahre nach dem Tod des Kritikers, hat Handke in einem GesprĂ€ch
in der Zeitschrift Freitag Reich-Ranicki gemeinsam mit Joschka Fischer und Daniel
Cohn-Bendit zu den âschlimmsten Typen der Nachkriegszeit in Deutschlandâ
gerechnet.351 Ein letztes Mal kommt Handke auf Nachfrage der beiden Journalisten
auf das Treffen der Gruppe 47 in Princeton zurĂŒck, wo âPfeifen wie Reich-Ranickiâ
ĂŒber Texte von Uwe Johnson und GĂŒnter Grass geurteilt hĂ€tten: âIch hab gedacht:
âWie lassen sich solche Autoren abkanzeln von so einem Stinker?âÂ
[âŠ] Ich finde jetzt
nicht mal die Wörter fĂŒr dieses falsche Ausholen eines falschen Wissenden ĂŒber
die Literatur.â Das Diktum De mortuis nihil nisi bene scheint hier keine GĂŒltigkeit
zu haben; Vergebung wird nicht gewĂ€hrt: âReich-Ranicki werde ich nie verzeihen,
was er angerichtet hat.â 352 Ja, man könnte, als Fazit der lebenslangen âUnversöhn-
lichkeitâ, auf der Handke schon in seinem Brief aus dem Jahr 1976 beharrt hatte,
die Bemerkung des Franz-Josef Murau in Thomas Bernhards Auslöschung (1986)
anfĂŒhren, wonach der âTod eines Menschenâ aus diesem ja âkeinen andernâ mache:
348 AnlĂ€sslich der Zuerkennung des DĂŒsseldorfer Heinrich-Heine-Preises an Handke im FrĂŒhjahr
2006 hatte Reich-Ranicki noch von einer âempörende[n] Beleidigung und Verhöhnung des
Dichters Heineâ gesprochen; die Aussage kolportiert Hubert Spiegel: Preis fĂŒr Peter Handke.
Heine wird verhöhnt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 5. 2006.
349 Herwig/Michaelsen/Handke: âIch wĂ€re liebend gern ein Böserâ (Anm. 241), S. 54.
350 Ebd.
351 Jan C. Behmann/Mladen GladiÄ: âIch habe keine Schubladeâ. [GesprĂ€ch mit Peter Handke.] In:
Freitag, Nr.Â
34, 23. 8. 2018, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ich-habe-keine-schublade
(Stand 30. 10. 2018).
352 Ebd. Unversöhnt: letzte Gefechte 215
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471