Seite - 236 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Auf die eine oder andere Weise hat die Maxime, den Gestus des forschenden
Lesers jenem des routinierten Rezensenten vorzuziehen, Handkes literaturkri-
tische Praxis ĂŒber viele Jahrzehnte geprĂ€gt â und ihm dazu gedient, sich von
anders verfahrenden Zeitgenossen zu distanzieren, ja, so Otto Lorenz, âgegen
die Leitprinzipien der anderen zu Feldeâ zu ziehen.75 In der Korrespondenz mit
Hermann Lenz beklagte Handke 1975 zunĂ€chst, die âĂŒblichen Rezensionssche-
mataâ seien âja so tötend (geist- und seele-)â,76 um kurz darauf sein eigenes Lesen
und Rezensieren mit diesem negativen Vorbild abzugleichen: âIhr Buch habe
ich schon vom Verlag gekriegt und lese es gerade noch einmal, mir scheint, zu
rezensentenhaft, durch.â 77 Handke betonte wiederholt, nur die âRolle des Kri-
tikersâ 78 einzunehmen, die entsprechende Profession hat er selbst aber nie fĂŒr
sich reklamiert. Karl Wagner hat in diesem Zusammenhang Handkes âReserve
gegenĂŒber der parat stehenden Rolle des Profi-Lesersâ hervorgehoben, âvon der
er geradezu methodisch Abstand hĂ€ltâ.79
Wie der Geologe Sorger in Langsame Heimkehr tunlichst vermeidet, sich in
seiner forschenden TĂ€tigkeit âals Professionellerâ aufzuspielen,80 weil ihm die
âBeschreibungs- und BenennungsĂŒbereinkĂŒnfteâ seiner Wissenschaft stets âfrag-
wĂŒrdigâ erscheinen,81 so distanziert sich Handke davon, ein Literatur kritiker im
herkömmlichen Sinne zu sein. âExperten, Profis, Spezialistenâ 82 sind ihm, wie er
ein ums andere Mal betont hat, verdĂ€chtig; er könne âden Kritikerâ bestenfalls
75 Lorenz: Pro domo (Anm. 7), S. 409.
76 Handke an Lenz, 14. 3. 1975. In: Handke/Lenz: Berichterstatter des Tages (Anm. 35), S. 69.
77 Handke an Lenz, 30. 4. 1975. In: ebd., S. 74.
78 Der entsprechende Abschnitt in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972) heiĂt denn
auch demonstrativ âIn der Rolle des Kritikersâ (S. 191 â 207).
79 Karl Wagner: Handke als Leser. In: lesen.heute.perspektiven. Hg. v. Eduard Beutner u. Ulrike
Tanzer. Innsbruck u. a.: StudienVerlag 2010, S.Â
140 â 149, hier S.Â
146 f. Vgl. Mixner: Peter Handke
(Anm.Â
10), S.Â
162: âFĂŒr ihn ist die Rolle des Kritikers, des Kommentators, des Wohl- oder Ăbel-
meinenden eine fremde Rolle. Er fĂŒhlt sich darin nicht wohl, denn das Begriffsrepertoire, dessen
er sich dafĂŒr bedienen muĂ, erscheint ihm beliebig verfĂŒgbar.â
80 Peter Handke: Langsame Heimkehr. ErzÀhlung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 120.
81 Ebd., S. 18. Vgl. Bartmann: Suche nach Zusammenhang (Anm. 24), S. 231 f.; jetzt auch Ulrich
von BĂŒlow: Heidegger-LektĂŒren. In: Das stehende Jetzt. Die NotizbĂŒcher von Peter Handke.
GesprÀch mit dem Autor und Essays von U. v. B. Marbach a. N.: Deutsche Schillergesellschaft
2018, S. 95 â 123, hier S. 102: âIn Handkes ErzĂ€hlung Langsame Heimkehr von 1979 sucht die
Hauptfigur Valentin Sorger einen grundsÀtzlich neuen Bezug zur Welt, indem er Landschafts-
formen zeichnet und beschreibt. Als Geologe ist er mit den Dimensionen von Raum und Zeit
vertraut, allerdings wird ihm die Sprache seiner Wissenschaft zunehmend problematisch,
ihre âinteresseloseâ Darstellungsmethode lehnt er als unzulĂ€nglich ab. [âŠ] Mit der von ihm
geplanten Abhandlung âĂber RĂ€umeâ will er ausdrĂŒcklich âdie ĂbereinkĂŒnfte seiner Wissen-
schaft verlassenâ.â
82 Peter Handke: Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der LandstraĂe. Ein Schau-
spiel in vier Jahreszeiten. Berlin: Suhrkamp 2015, S. 123.
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik236
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471