Seite - 242 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Gleichzeitig ist Handkes LektĂŒrebericht eng mit dem Text der Verstörung selbst
verwoben; er entwirft keine Perspektive auĂerhalb des âbesprochenenâ Romans,
um dessen literarische Machart zu beschreiben, sondern er vollzieht dessen
erzÀhlerische Struktur bis ins Detail des Wortbestandes nach: Wenn Handke etwa
im vorletzten Satz vom inneren Erfrieren des FĂŒrsten schreibt, nimmt er dabei
eine im Roman selbst gebrauchte Formel auf: âIch erfriere von innen heraus.â
(TBW 2, 161)103 Auch die von Handke verwendete Bezeichnung Sauraus als âganz
gegen die Wirklichkeit konstruiert[e]â Figur findet sich bereits in Bernhards
Text, wobei es sich dort um eine Selbstcharakterisierung des zusehends dem
Wahnsinn anheimfallenden FĂŒrsten handelt: âIch bin ganz gegen die Wirklich-
keit konstruiertâ (TBW 2, 178).
Neben jenen Passagen, die konkret dem Akt der LektĂŒre von Bernhards
Verstörung gewidmet sind, besteht Handkes Aufsatz zu groĂen Teilen aus
der NacherzÀhlung des Romans bzw. aus dem Nachvollzug der Handlung
(des Besuchs eines Arztes und seines Sohns bei dem zurĂŒckgezogen auf der
Burg Hochgobernitz lebenden FĂŒrsten Saurau) im Sinne eines detaillierten
LektĂŒreprotokolls:104
Als die beiden auf der Burg ankamen, ging der Blick tatsÀchlich Hunderte von Kilo-
metern weit. / Sie sahen den FĂŒrsten auf der Ă€uĂeren Burgmauer, sie trafen ihn auf
der inneren. Er begrĂŒĂte sie, ohne stehenzubleiben. Sie schlossen sich ihm an. Er
setzte sein SelbstgesprĂ€ch, das er schon den ganzen Tag lang fĂŒhrte, sogleich mit
ihnen fort. Dem FĂŒrsten war es in jedem Augenblick natĂŒrlich, daĂ die Welt ausein-
anderbricht. Er redete immer von sich selber wie von der ganzen Welt und von der
ganzen Welt wie von sich selber. Der Vater hatte dem Studenten schon gesagt, der
FĂŒrst sei total wahnsinnig, auch die MĂŒllersburschen unten hatten erzĂ€hlt, daĂ der
FĂŒrst Unglaubliches rede.105
WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2013, S.Â
258, als in Bernhards Ćuvre wiederkehrendes
Strukturmuster des ZirkulÀren beschrieben; Handke greift dieses Muster in seinem Text in
AnsÀtzen auf.
103 Eine Ă€hnliche Stelle findet sich bereits in Bernhards erstem Prosabuch Frost (1963): âEs sei ja
nicht kaltâ, rekapituliert dort der Famulant eine Aussage des Malers Strauch, âim Gegenteil,
aber: âder Föhn, wissen Sie. Innerlich, verstehen Sie, habe ich gefroren. Man friert innerlich.ââ
(TBW 1, 25)
104 Vgl. dazu Karl Wagner: âEr war sicher der Begabteste von uns allenâ. Bernhard, Handke und
die österreichische Literatur. Wien: Picus 2010, S.Â
34: Als ich âVerstörungâ von Thomas Bernhard
las âillustriert zugleich, wie Handke die ZwĂ€nge und Rituale der Gattung Buchrezension aus-
zuhebeln trachtet, indem er mit Hilfe einer NacherzÀhlung eine Analyse zu geben sucht. Sein
geradezu Roseggerâscher Titel indiziert eine epische NaivitĂ€t, die dem Meinungs- und Urteils-
terror der Besprechung ein Schnippchen schlagen will [âŠ].â
105 Handke: Als ich Verstörung von Thomas Bernhard las (Anm. 98), S. 212.
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik242
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471