Seite - 254 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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UnvergeĂlich ist mir die Szene von der UrauffĂŒhrung des StĂŒckes in Hannover, als die
zwei mĂ€nnlichen Akteure mitten im âernsthaftenâ Reden aufhören und auf die Platte
horchen, die gerade lÀuft. Und dann warten sie beide auf die gleiche Stelle in der
Nummer, auf den Ăbergang; sie strecken beide den Arm aus und werden so immer
stiller:Â â jetzt kommt die Stelle, sie seufzen, lassen die Arme sinken.163
Um den Leserinnen und Lesern diese subjektive Erfahrung verstÀndlich und
nachvollziehbar zu machen, versucht der Rezensent nicht, die kĂŒnstlerische
QualitĂ€t von Bauers StĂŒck durch den Vergleich mit kanonischen VorlĂ€ufern
zu plausibilisieren (obwohl der Name Nestroy fÀllt) oder durch Floskeln der
Theater kritik zu unterstreichen. Vielmehr ist ihm daran gelegen, seine Begeiste-
rung ĂŒber die Wahrnehmung der âVorgĂ€nge im Theaterâ zu vermitteln.164 âHat
noch niemand erlebtâ, fragt Handke denn auch wenige Monate spĂ€ter in einem
Kommentar zu verschiedenen Inszenierungen seines Kaspar in der Zeitschrift
Theater heute, âwie quĂ€lend spannend es sein kann, jemandem, der am Niesen ist,
aber dann doch nicht niest, zuzuschauen?â 165 Den Lesern einer Kritik eine solche
Aufmerksamkeit fĂŒr scheinbar unbedeutende Gesten, Handlungen und VorgĂ€nge
auf der BĂŒhne bzw. auf der Leinwand zu vermitteln, ist ein wesentliches Anlie-
gen von Handkes theater- und filmkritischen Arbeiten der spÀten 1960er Jahre.
Wer nicht willens oder fÀhig war, diese konzentrierte und wohlwollende Acht-
samkeit fĂŒr die Details eines Kunstwerks aufzubringen â die in manchem auf
Handkes âpoetische Arbeit am Abenteuer der Alltagswahrnehmungâ 166 voraus-
weistÂ
â, löste beim Rezensenten mitunter Phantasien gewalttĂ€tigen Einschreitens
aus, wie seine zunĂ€chst in der Zeitschrift film gedruckte Notiz zu einer âNacht-
vorstellungâ verdeutlicht:
In der Nacht habe ich mir in der âLupeâ am KurfĂŒrstendamm wieder Peckinpahâs âSacra-
mentoâ (Ride the high country) angeschaut. Auf diesen unendlich schönen, ruhigen
und traurigen Film, in dem man aufatmen und schauen konnte, reagierten die linken
Nachtvorstellungsbesucher, die blind mit ihren elendblöden, lauten Zicken in die Nacht-
vorstellung geraten waren, mit besoffenem Grölen, BrĂŒllen und Schreien. Sie waren
gar nicht mehr fÀhig, was zu SEHEN, sie reagierten nur dumpf auf Reizwörter, wie die
Meerschweinchen. Mein Wunsch: daĂ man sie zusammentun wĂŒrde, die linke ScheiĂe
und die rechte ScheiĂe, die liberale ScheiĂe dazu, und eine Bombe drauf schmeiĂen.167
163 Ebd., S. 197.
164 Ebd.
165 Peter Handke: Das Hören und das Sehen. In: Theater heute (1969), H. 2, S. 67.
166 Gottwald/Freinschlag: Peter Handke (Anm. 30), S. 33.
167 Peter Handke: Dummheit und Unendlichkeit. In: film 7 (MĂ€rz 1969), H. 3, S. 10 â 11, hier S. 11;
auch in: P. H.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (Anm. 6), S. 153 â 157, hier S. 156. Der
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik254
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471