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der Terrasse sitzt: âDer Mond ging auf. BesĂ€nftigung zog in sein Herz.ââ 182 Sei
Jonkes Geometrischer Heimatroman auch weder ein âsehr gutes Buchâ noch ein
âwertvolles Buch, mit dem Zeitungen um Abonnenten werbenâ (womit Handke
nicht zuletzt gegen den Jargon der Literaturkritik Stellung bezieht), liege seine
QualitĂ€t gerade darin, dass man âso viele Erfahrungen damit machenâ könne,
âdaĂ man Lust hat, die Erfahrungen zu beschreibenâ.183
Wie nebenher benennt Handke hier einen zentralen Antrieb seines litera-
turkritischen Schreibens, nimmt aber ĂŒberraschenderweise nicht darauf Bezug,
dass Jonke selbst in seinem Roman eine Parodie der Kunstkritik vorgelegt hat:
Im ersten âIntermezzoâ des Geometrischen Heimatromans, das mit âVorfĂŒhrung
des KĂŒnstlersâ ĂŒberschrieben ist,184 prĂ€sentiert der Autor zunĂ€chst erzĂ€hlerische
Varianten ĂŒber den tragischen Unfall eines Artisten, der bei der AusfĂŒhrung
seines KunststĂŒcks zu Tode gekommen ist, um nach diversen (auch typogra-
phisch experimentellen) AnlÀufen zur Vermittlung des Geschehens mit dem
Hinweis zu schlieĂen, es sei âam bestenâ, âwenn wir uns an den objektiven und
wahrheitsgetreuen Bericht der Presse haltenâ.185 Der nun folgende âBericht
auf der Kulturseite einer Zeitung / geschrieben vom Kunstkritiker,
182 Handke: In SĂ€tzen steckt Obrigkeit (Anm.Â
106), S.Â
188. In der Ăbersetzung von JĂŒrgen Rehbein
lautet die Passage bei Flaubert: âDer Mond ging auf; ein GefĂŒhl der Ruhe senkte sich in sein
Herz.â (Gustave Flaubert: Herodias. In: G. F.: Drei ErzĂ€hlungen. Ăbers. u. hg. v. JĂŒrgen Rehbein.
Stuttgart: Reclam 1994, S.Â
91 â 133, hier S.Â
117) Vgl. auch die folgenden Spuren des Flaubert-Zitats
in Handkes Werken: âWenn nach dem Tanzen die Bewegungen abbrechen und nur noch GerĂ€u-
sche und Weggehen sich ereignen: âBesĂ€nftigung zog in sein Herzââ (Handke: Das Gewicht der
Welt [Anm.Â
72], S.Â
13); âAm noch taghellen Himmel ging der Mond auf. Ich konnte mir darauf
das âMeer des Schweigensâ vorstellen, und Flauberts âBesĂ€nftigungâ zog in mein Herzâ (Peter
Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 62); âJa, er war
zurĂŒckgeschreckt, und fast zugleich, wie im Gegenzug, entfaltete sich in ihm etwas, das mehr
war als er und ihn ĂŒberstieg, allein schon in der Bewegungsart seinem Wegzucken widerspre-
chend, eine so namen- und grenzenlose wie riesenhafte Beseligung, wozu er in der Nacht auf
dem Boot ein Satzpaar Gustave Flauberts abwandelteÂ
â statt âDer Mond ging aufÂ
/ BesÀnftigung
zog in sein Herzâ: âSie wĂ€hlte michÂ
/ Beseligung zog in sein Herz.ââ (Peter Handke: Die morawi-
sche Nacht. ErzĂ€hlung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S.Â
139); âDie Augen meines GegenĂŒbers
wurden Farbe. BesĂ€nftigung zog in mein Herz (noch einmal fĂŒr Flaubert)â (Handke: Vor der
Baumschattenwand nachts [Anm. 176], S. 225). â Auf die Geschichte dieses Zitats in Handkes
Werk verweist bereits Clemens Ăzelt: Durch die Lupe? Peter Handkes Kurzprosa (Noch ein-
mal fĂŒr Thukydides, BegrĂŒĂung des Aufsichtsrats). In: Schreiben als Weltentdeckung (Anm.Â
29),
S.Â
73 â 95, hier S.Â
86 f. u.Â
90.Â
â Zu âauto-intertextuellen Referenzenâ im Werk des Schriftstellers
vgl. jetzt auch Oliver Kohns: Werkimmanente IntertextualitÀt bei Peter Handke. Selbstzitat,
-fortschreibung, -kommentar und -parodie. In: Die tĂ€gliche Schrift (Anm. 168), S. 231 â 242,
Zit. S. 241.
183 Handke: In SÀtzen steckt Obrigkeit (Anm. 106), S. 186.
184 G. F. Jonke: Geometrischer Heimatroman. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969, S. 21.
185 Ebd., S. 29.
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik258
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471