Seite - 265 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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nicht bei dieser Diagnose stehen. Wenn er die erzählerische Faktur des Romans
im Zuge einer detaillierten Lektüre unter die Lupe nimmt, erschließt sich ihm
zwar Strucks „Schreib-Automatik“;222 diese ergebe sich aber nicht primär aus einer
unreflektierten Verwendung literarischer Modelle, sondern, ganz im Gegenteil,
aus einer allzu gewollt inszenierten erzählerischen Konstruktion, die ihre eigene
Agenda – die Sensibilisierung für das Schicksal der Protagonistin – „in modi-
schen Satzposen“ hintertreibe:
Deklamation bleibt vor allem die in dem Buch ersehnte Bewußtseinslandschaft, die
Poesie. Karin Struck verpaßt in ihrer eifervollen Unaufmerksamkeit, die immer
sogleich auf Poetisches aus ist und deshalb poesielos bleibt, vielleicht gerade die
Momente, da während des definierten Rollenspiels in einer Art von Versprecher klein-
winzig und weltbewegend jene nicht definierte, noch unbekannte Geschichte erscheint,
deren Aufspürung und Beschreibung die Arbeit der Literatur wäre.223
Handkes Vorwurf besteht demnach nur teilweise darin, dass die Zeichnung der
Figuren „literarische[n] Konventionen“ folgt;224 vielmehr nimmt er, wie Manfred
Mixner gezeigt hat, an der „mangelnde[n] Erfahrbarkeit des Romans“ Anstoß.225
Ganz in diesem Sinne schließt die Rezension denn auch mit einer Wendung,
die eine der meistzitierten Sentenzen der Literaturgeschichte aufgreift – sie
stammt aus Franz Kafkas Brief an Oskar Pollak vom 27. Januar 1904226 – und
gegen Strucks allzu vordergründiges erzählerisches Kalkül ins Spiel bringt:
Das Buch „Die Mutter“ ergrimmt so, weil es pauschal propagiert, poetisch das Leben
zu ändern, in jeder Einzelheit jedoch servil von den schon bekannten psychologischen,
soziologischen und vor allem poetischen Definitionen des Menschen abhängt. Statt „die
Axt für das gefrorene Meer in uns“ zu sein (auch dieser Kafka-Satz ist bei Karin Struck zu
bloßer Beliebtheit entwürdigt), vermehrt es das Eis in uns und zwischen dir und mir.227
S. 49 – 54.
222 Handke: Denunziation ohne Wahrnehmung (Anm. 221), S. 149.
223 Ebd.
224 Ebd., S. 147.
225 Mixner: Peter Handke (Anm. 10), S. 209.
226 Vgl. Franz Kafka an Oskar Pollak, 27. 1. 1904. In: Franz Kafka: Briefe 1900 – 1912. Hg. v. Hans-
Gerd Koch. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1999 (= F. K.: Schriften Tagebücher Briefe. Kritische
Ausgabe), S. 36: „Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns
sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vor-
stoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für
das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.“
227 Handke: Denunziation ohne Wahrnehmung (Anm. 221), S. 149. Zur Kafka-Anspielung in
Handkes Struck-Rezension vgl. Gabriel: Peter Handke und Österreich (Anm.
93), S.
124, zur
Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 265
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471