Seite - 268 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Mir wird dann immer vorgeworfen ⊠Wenn man das liest, diese kritikÀhnlichen
Erfahrungen oder diese kritischen Bemerkungen â Kritiken kann man das ja nicht
nennen â, wird mir vorgeworfen, ich schriebe ja selber und ich könnte das also nur
subjektiv sehen oder ich könnte das nur von meiner Art des Machens sehen, und ich
finde das eigentlich einen schÀndlichen Vorwurf. Warum soll ich, weil ich schreibe,
weniger sehen oder beschrÀnkter sein in meinem Sehen? Ich will eigentlich nur, wenn
ich ĂŒber Theater oder ĂŒber Film schreibe, meine Erfahrungen mitteilen und sehen,
ob die anderen Leute auch solche Ă€hnlichen Erfahrungen machen können. Ich glaubâ,
man muss da mit dieser Arbeitsteilung zwischen Theorie und Praxis vielleicht ver-
suchen aufzuhören.235
Handke, der â wie bereits zitiert â die âRolleâ des âKritikersâ, âeines Kom-
mentators, eines Wohl- und Ăbelmeinendenâ,236 stets als eine fĂŒr ihn âfremdeâ
wahrnahm, ja sich ostentativ gegen diese Bezeichnung verwahrte und mit dem
souverĂ€nen âKritikspielâ 237 der professionellen Rezensenten lediglich kokettierte,
wendet den âschĂ€ndlichen Vorwurfâ der âSubjektivitĂ€tâ des Autor-Kritikers hier
in eine positive Bestimmung der eigenen Praxis â komme es doch, so Handke,
nicht auf eine distanzierte Analyse, sondern auf die Mitteilung Àsthetischer
âErfahrungenâ an.
Der Forderung nach einer feinsĂ€uberlichen âGewaltenteilung zwischen
poetologischer Normsetzung, dichterischer KunstĂŒbung und kritischer Ver-
mittlungâ,238 nach einer âzunftmĂ€Ăigen Trennung zwischen literarischer Kritik
und literarischer Produktionâ,239 konnte er jedenfalls wenig abgewinnen, son-
dern er verstand das Schreiben ĂŒber die Texte literarischer Zeitgenossen stets
als integralen Teil seiner schriftstellerischen Existenz. Was er Mitte der 1980er
Jahre im GesprĂ€ch mit Herbert Gamper fĂŒr den Bereich des Sports konstatiert
hat, dass nĂ€mlich âdie FuĂballerÂ
[âŠ] viel schöner erzĂ€hlen ĂŒber ihr Spiel als die
meisten Reporter das je könnenâ, hat er in Ă€hnlicher Weise fĂŒr die Schriftstelle-
rinnen und KĂŒnstler festgehalten. Allerdings sei, wie Handke Gamper gegen-
ĂŒber kritisch geĂ€uĂert hat, zu beobachten, dass sich nicht nur die âKĂŒnstler
zunehmend so wie die Journalistenâ ausdrĂŒckten, âdie drĂŒber ihren Diskurs
veranstaltenâ, sondern auch âdie FuĂballerâ mehr und mehr âwie die Reporter
ĂŒber ihr Spielâ redeten.240
235 Peter Handke im GesprĂ€ch mit Friedrich Luft (Anm. 20), 28:32 â 29:19.
236 Handke: Vorbemerkung (Anm. 39), S. 8.
237 Handke: Gurken und Kiefern, Ăpfel und Schnee (Anm. 83), S. 274.
238 Lorenz: Pro domo (Anm. 7), S. 399.
239 Reinhard Baumgart: Damals. Ein Leben in Deutschland. 1929 â 2003. [MĂŒnchen]: Hanser 2003,
S. 195.
240 Handke: Aber ich lebe nur von den ZwischenrÀumen (Anm. 120), S. 258.
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik268
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471