Seite - 269 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Reich-Ranicki war der Ăberzeugung, dass es in der Literaturkritik nicht
darauf ankomme, âselber dichterisch zu denken, sondern das Dichten und
Denken anderer zu erkennen und zu ĂŒberprĂŒfen, zu zeigen und einzuordnenâ.241
Walter Benjamin warf er vor, âzu sehr poetischer Denkerâ gewesen zu sein, um
als âLiteraturkritikerâ zu arbeiten,242 wĂ€hrend Handke sein VerstĂ€ndnis von
Literaturkritik 1984 in einer programmatischen Rede ausdrĂŒcklich in dessen
Nachfolge gestellt und die Unvereinbarkeit von dichterischem und kritischem
Schreiben vehement bestritten hat: âWĂŒrde das WĂŒnschen helfen, so wĂ€re
folgendes mein Wunsch: eine Wiederholung, eine Erneuerung, eine Wieder-
belebung der Haltung Walter Benjamins.â 243 Handke bezieht sich hier nicht
auf Benjamins Ende der 1920er Jahre intensivierte Agitation fĂŒr eine politisch
engagierte, materialistische Praxis der Kritik, der das âKunstwerkâ als âblanke
Waffe in dem Kampfe der Geisterâ dient.244 Vielmehr zielt er mit der emphati-
schen Hoffnung auf eine âWiederbelebungâ auf eine markante Traditionslinie
in der deutschen Literaturkritik ab, die sich von Novalisâ im ersten Band des
AthenĂ€ums skizziertem Ideal des âartistischen Kritikersâ, âdessen Arbeiten die
Geschichte der Kunst vorbereitenâ,245 bis ins 20.Â
Jahrhundert verfolgen lÀsst: zu
Benjamins in den âDreizehn Thesenâ zur âTechnik des Kritikersâ im Band Ein-
bahnstraĂe (1928) formulierter Forderung, die Kritik mĂŒsse âin der Sprache der
241 Marcel Reich-Ranicki: Walter Benjamin. Der poetische Denker. [1972] In: M. R.-R.: Die AnwÀlte
der Literatur (Anm. 234), S. 227 â 236, hier S. 234 f.
242 Ebd., S. 235. Zu Reich-Ranickis Vorbehalten gegenĂŒber Benjamin vgl. Franz Schuh: All you
need is love. Notizen und Exzerpte zur (Literatur-)Kritik. In: F. S.: SchreibkrĂ€fte. Ăber Literatur,
GlĂŒck und UnglĂŒck. Köln: DuMont 2000, S. 24 â 114, hier S. 69 â 71; Christoph Schmitt-MaaĂ:
Kritischer Kannibalismus. Eine Genealogie der Literaturkritik seit der FrĂŒhaufklĂ€rung. Biele-
feld: transcript 2019, S. 134 â 137.
243 Peter Handke: Einwenden und Hochhalten. Rede auf Gustav JanuĆĄ. [1984] In: P. H.: Langsam im
Schatten. Gesammelte Verzettelungen. 1980 â 1992. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S.Â
125 â 135,
hier S.Â
127. Vgl. zu dieser Rede Kap.Â
III, Abschnitt âEinwenden und Hochhalten: Handkes Rede
gegen die Literaturkritikâ.
244 Walter Benjamin: EinbahnstraĂe. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung v. Theodor
W. Adorno u. Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann SchweppenhĂ€user. Bd.Â
IV.1.
Hg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 83 â 148, hier S. 109. Vgl. dazu
Benjamins umfangreiche Vorarbeiten fĂŒr eine Einleitung zu einem nie realisierten Band mit
gesammelten Kritiken; ders.: Zur Literaturkritik. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd. VI. Hg.
v. Rolf Tiedemann u. Hermann SchweppenhĂ€user. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S.Â
161 â 183.
Zum Plan dieses Bandes vgl. Uwe Steiner: Walter Benjamin. Stuttgart, Weimar: Metzler 2004,
S. 99 f., sowie Michael Opitz: Literaturkritik. In: Benjamin-Handbuch. Leben â Werk â Wir-
kung. Hg. v. Burkhardt Lindner. Unter Mitarb. v. Thomas KĂŒpper u. Timo Skrandies. Stuttgart,
Weimar: Metzler 2006, S. 311 â 332, hier S. 323 f.
245 [Novalis:] BlĂŒthenstaub. In: AthenĂ€um. Eine Zeitschrift v. August Wilhelm Schlegel u. Friedrich
Schlegel. Ersten Bandes Erstes StĂŒck. Berlin: Vieweg 1798, S. 70 â 106, hier S. 85.
Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 269
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471