Seite - 274 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Salzburger Kulturbetrieb der Nachkriegsjahre zu emanzipieren. Die ersten
Schritte auf diesem Weg lassen sich anhand seiner Tätigkeit als Journalist und
Kulturberichterstatter nachvollziehen. Ihr sind die folgenden Überlegungen, die
Bernhards frühe Literaturkritik und ihren Nachhall im späteren Werk in den
Blick nehmen, gewidmet.
Im konservativen Literaturbetrieb Salzburgs sozialisiert, fand Thomas
Bernhard die ersten Taktgeber seines Schreibens und seiner Reflexion über Lite-
ratur und Kultur nicht
– wie später der knapp zwölf Jahre jüngere Handke
– im
„großen, dabei so leichtsinnigen Schall“ der Beatles,5 sondern in der Riege jener
Geistesgrößen, die schon sein Großvater, der Schriftsteller Johannes Freumbichler,
in Ehren gehalten hatte. Ende der 1940er Jahre mit einer schweren Lungen-
erkrankung in einem Sanatorium in Großgmain untergebracht, entdeckte er jene
Werke für sich, die ihm sein kurz zuvor verstorbener Großvater als Erbe und
Lesestoff hinterlassen hatte.6 Seine Familie bat er darum, so berichtet Bernhard
im dritten Band der autobiographischen Erzählungen, Der Atem. Eine Entschei-
dung (1978), ihm „jene Bücher aus dem Bücherkasten meines Großvaters“ ans
Krankenbett zu bringen, von denen er wusste, „daß sie im Leben meines Groß-
vaters von allererster Bedeutung gewesen waren“ (TBW 10, 298 f.): Werke von
William Shakespeare und Adalbert Stifter waren darunter, von Nikolaus Lenau
und Miguel de Cervantes, von Michel de Montaigne, Blaise Pascal und Arthur
Schopenhauer, aber mit Ausnahme von Charles Péguy und Knut Hamsun offen-
bar keine Autoren (und schon gar keine Autorinnen), deren Wirken bis ins
20.
Jahrhundert, geschweige denn bis zu den Avantgarden der 1910er und 1920er
Jahre gereicht hätte:
Meine Bibliothek in meinem Zimmer war schon auf mehrere Dutzend Bücher ange-
wachsen gewesen, ich hatte den Hunger von Hamsun, den Jüngling von Dostojewski
und Die Wahlverwandtschaften gelesen und mir, wie mein Großvater das sein ganzes
Leben lang praktiziert hatte, zu meiner Lektüre Notizen gemacht.
[…] Kaum war ich
aufgewacht und hatte wie seit Monaten jeden Morgen die Vorschrift, meine Tempera-
tur zu messen, gewissenhaft erfüllt gehabt, war ich auch schon mit meinen Büchern,
meinen engsten und innigsten Freunden, zusammen gewesen. (TBW 10, 306)
5 Peter Handke: Versuch über die Jukebox. Erzählung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 89.
6 Vgl. dazu Bernhard Judex: Der Schriftsteller Johannes Freumbichler. 1881 – 1949. Leben und
Werk von Thomas Bernhards Großvater. Wien u. a.: Böhlau 2006, S. 221 – 249, sowie ders.:
Schreiben in der „Denkkammer“. Thomas Bernhard und das literarische Erbe seines Großvaters
Johannes Freumbichler – Überlegungen zur poetischen Genese. In: Thomas Bernhard Jahr-
buch 2005/2006, S.
11 – 33.
– Alexander Honold: Bernhards Dämonen. In: Thomas Bernhard
–
eine Einschärfung. Hg. v. Joachim Hoell, A. H. u. Kai Luehrs-Kaiser. Berlin: Vorwerk 8 21999,
S. 17 – 25, hier S. 22, schreibt mit Blick auf Bernhards jugendliche Lektüren von einem „ange-
lesene[n], nicht wirklich angeeignete[n] Sammelsurium auf Großvaters Spuren“.
„Zeitungsg’schicht’ln“: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker274
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471