Seite - 280 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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einen Spaziergang auf dem Friedhof im Salzburger Stadtteil Maxglan; siebzehn
Monate zuvor war Freumbichler hier beerdigt worden:
Plötzlich stand ich still. Ich las an einer anscheinend vergessenen GrabstÀtte den
Namen eines stillen Denkers und einzigartigen Dichters, der, wie ich mich erinnerte,
vor eineinhalb Jahren hier begraben wurde. Ich dachte sogleich an Leute in Henn-
dorfer Tracht, an Bauern und BĂ€uerinnen mit gesenktem Haupt, die dem schlichten
Sarge langsam folgten. Wieder schmerzte mich der Verlust dieses groĂartigen Mannes
aus dem nahen Henndorf und wie von fern her drangen die LobgesÀnge aus seinen
Gedichten zu mir, sah ich die Gestalten aus einer unvergÀnglichen Philomena Ellen-
hub. Hat man das Grab des Dichters vergessen? (TBW 22.1, 9)
Der Autor dieser Zeilen verzichtet darauf, sich als Enkel des âgroĂartigen
Mannesâ zu outen. SpĂ€ter wird er Johannes Freumbichler in weiteren jour-
nalistischen BeitrÀgen, etwa in den Reportagen Hochsommerliches Henndorf
(9. Juli 1952) und HĂŒgelwanderung zu zweit (8. Juli 1953),28 beilĂ€ufig erwĂ€hnen,
er wird sich bei verschiedenen Gelegenheiten bemĂŒhen, âdie Erinnerung an
Freumbichler lebendig zu haltenâ,29 und dabei wiederholt beklagen, dass sein
GroĂvater nicht genĂŒgend Aufmerksamkeit und WertschĂ€tzung im literari-
schen Feld erfahre: Man finde, so heiĂt es in einem Artikel zu den Salzburger
Festspielen 1953, in den hiesigen Buchhandlungen beinahe keine BĂ€nde von
âösterreichischen Autorenâ mehr â âfast keinen Mell, keinen Freumbichler,
nichts von PreradoviÄ, kaum einen Hofmannsthal, nur mehr den Hemingway
und die gute Coletteâ (TBW 22.1, 228).30
Bernhards nun mit vollem Namen gezeichnete Klage ĂŒber die mangelnde
PrÀsenz der österreichischen Literatur in den Schaufenstern des Salzburger
Buchhandels ist charakteristisch fĂŒr seinen Blick auf Literatur und Literatur-
betrieb dieser Jahre: Zum einen Ă€uĂert sich darin die tendenzielle Reserviertheit
28 Vgl. zu diesen Texten Christian Klug: Thomas Bernhards Arbeiten fĂŒr das Salzburger Demo-
kratische Volksblatt 1952 bis 1954. In: Modern Austrian Literature 21 (1988), H. 3/4, S. 135 â 172,
hier S. 139 f.: âIn Berichten ĂŒber seine Wanderungen idealisiert Bernhard die bĂ€uerliche und
handwerkliche Sozialstruktur dieser Gegend zu einer Idylle, in die sich Momente kindlicher
Wahrnehmung mischen. Dadurch erhalten diese Schilderungen seltsam entrĂŒckte, sowohl
klischee- als auch mĂ€rchenhafte ZĂŒge.â Vgl. dazu ebd., S. 140 â 144.
29 Billenkamp: Thomas Bernhard (Anm. 14), S. 37.
30 Einige Wochen zuvor hatte Bernhard in Wo sind die österreichischen Dichter? bedauert, dass man
in den Schaufenstern der Buchhandlungen âzehnmal (und in allen Schattierungen) Cronin,
Colette, Lewis, Hemingway usw. â um noch die besseren zu nennen â vorfindet, wĂ€hrend
unsere Augen nur sehr, sehr selten Kunde von der Existenz eines Franz Nabl oder einer Paula
Grogger, um nur zwei Beispiele herauszugreifen, erfahren.â (TBW 22.1, 168) Vgl. auch TBW
22.1, 284.
âZeitungsgâschichtâlnâ: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker280
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471